Blog
PolizeiWissenschaft. (M)ein Blog.
Dieser Blog beschäftigt sich mit aktuellen Themen rund um Polizei und Wissenschaft. Es geht um aktuelle Forschungsergebnisse, polizeipolitische Entwicklungen und um Fragen der Inneren Sicherheit.
Warum?
Seit mehr als 40 Jahren beteilige ich mich an der Diskussion über die Polizei als Institution, über ihre Arbeit und ihr Verhältnis zu den Bürgern. Ich habe dazu empirische Forschungen durchgeführt und in vielen Ländern Projekte zum Aufbau einer demokratischen Polizei begleitet. Ich habe wissenschaftlich publiziert, gelehrt und diskutiert.
Seit 1999 gebe ich den monatlichen Polizei-Newsletter heraus, und seit 2011 beteiligte ich mich via Twitter (jetzt X) an der öffentlichen Diskussion über Polizei und Innere Sicherheit.
Zunehmend muss ich aber feststellen, dass diese Diskussionen immer häufiger verkürzt oder gar verfälscht werden. Aus diesem Grund habe ich mich entschieden, zu aktuellen Themen und Forschungsergebnissen in diesem Blog Stellung zu beziehen. Der Blog ersetzt nicht den Polizei-Newsletter, aber er ergänzt ihn.
Auf „X“ werde ich trotz nicht unerheblicher Bedenken weiter präsent sein, im wesentlichen aber, um auf meine Blog-Beiträge hinzuweisen.
Wie oft?
Bloggen werde ich, so oft wie es mir nötig erscheint, mindestens aber einmal im Monat – dann zur Ergänzung des Polizei-Newsletter, mit einem längeren Beitrag zu einem aktuellen Forschungsprojekt mit polizeiwissenschaftlichem Bezug.
Tugend und Polizei? Zur moralisch-ethischen Ausrichtung und Legitimität von polizeilicher Tätigkeit
Tugend und Polizei? Zur moralisch-ethischen Ausrichtung und Legitimität von polizeilicher Tätigkeit.
Worte wie „Tugend“ und „Moral“ werden, im Gegensetz zur „Legitimität“, im Kontext von polizeilichem Handeln eher nicht (mehr) verwendet. Sind die Begriffe „Polizei und Moral“ oder „Polizei und Tugend“ jeweils Antipoden, also nicht miteinander in Einklang zu bringen? Oder sind sie schlicht veraltet? Wenn letzteres der Fall wäre, dann wären sie, sofern man den Grundgedanken noch für wichtig und sinnvoll erachtet, durch andere Begriffe zu ersetzten. Die unter dem Titel „Policing as a Virtue; Moral Alignment and Legitimacy“ 2020 erschiene Dissertation von Mark Manning an der Universität Essex (Großbritannien) und ein im „Police Journal“ im Mai 2025 erschienener Beitrag von Manning und Wood mit dem Titel „Understanding the moral dimension of policing: The need to normalise ethical reasoning within police practice“ soll der Ausgangspunkt für den längeren Beitrag des Monats Juli werden.
I.
Moral, Tugend und Polizei?
Folgt man der Definition im Duden, gibt es zwei unterschiedliche Ansätze: Einerseits bezeichnet Moral die „Gesamtheit von ethisch-sittlichen Normen, Grundsätzen, Werten, die das zwischenmenschliche Verhalten einer Gesellschaft regulieren, die von ihr als verbindlich akzeptiert werden“. Andererseits (und individuell betrachtet) steht der Begriff für sittliches Empfinden eines Einzelnen oder einer Gruppe. Der Duden verweist auch auf Kant und seine Lehre vom sittlichen Verhalten des Menschen und auf den Begriff der Ethik. Letztlich soll damit auch die Bereitschaft, sich einzusetzen, „Disziplin, Zucht, gefestigte innere Haltung und Selbstvertrauen“ gemeint sein, also im Sinne von „die Moral der Mannschaft ist gut“. Letzteres („also die Moral ist gut“) ist durchaus auch im Polizeijargon verankert, allerdings nicht in Verbindung mit tatsächlich ethisch-sittlichen Normen, sondern eher im Sinne von: Wir haben Spaß, die Zusammenarbeit klappt. Über Moral im Sinne von Werten und Normen wird, außerhalb von Rechtsnormen, eher selten gesprochen.
Die Definition von „Tugend“ ist im Duden deutlich spärlicher. Damit sei die „sittlich wertvolle Eigenschaft (eines Menschen)“ gemeint, und als Beispiele werden „die Tugend der Gerechtigkeit, Aufrichtigkeit, Bescheidenheit, die christlichen, sozialistischen Tugenden, weibliche, männliche, preußische, militärische Tugenden“ genannt. Und: „Jeder Mensch hat seine Tugenden und seine Fehler“. Noch weniger als über „Moral“ wird im Polizeibereich über „Tugend“ gesprochen. Vielleicht noch über Kameradschaft (und damit mit Nähe zu den oben genannten militärischen Tugenden), aber keinesfalls über Gerechtigkeit, Aufrichtigkeit oder Bescheidenheit. Zumindest nicht, wenn es um polizeiliches Handeln geht. Obwohl: Gerecht will man handeln, ist sich dabei aber im Klaren, dass dies oftmals nicht gelingt oder gelingen kann. Daher schiebt man eher den Begriff der Rechtmäßigkeit vor, mit dem man sich in der Ausbildung intensiv beschäftigt hat.
II.
Alles veraltet? Oder wozu sind Moral, Ethik und Tugend(haftigkeit) noch gut?
Eine Gesellschaft, der es an einem moralischen Kompass fehlt, driftet auseinander. In einem Beitrag, der sich mit der „German Angst“ beschäftigt, habe ich 2024 geschrieben:
„Als Konsequenz entwickelt sich ein ›Treibsand-Gefühl‹ (Quelle). Der (moralische) Kompass geht verloren, die Gesellschaft driftet auseinander, Individualismus und Egoismus werden zu alleingültigen Maßstäben. Grundlegende moralische Werte lösen sich auf, die Gesellschaft verliert an Zusammenhalt, Extreme nehmen zu... Die Gesellschaft sucht sich Feindbilder, auf die sie ihre Ängste und Aggressionen abladen kann. Gleichzeitig verlieren die Menschen das Vertrauen in Institutionen. Wie die Studien von Zick und Kolleg:innen zeigen, geht die herkömmliche gesellschaftliche Mitte zunehmend verloren. … Hinzu kommt eine gewisse Grundfrustration, weil sich die Dinge nicht so (weiter-)entwickeln, wie wir dies erwartet und erhofft haben, sowie die Angst, bei dem gesellschaftlichen Wettrennen auf der Strecke zu bleiben. Um es mit Zygmunt Bauman zu sagen: »The biggest fear of our time is the fear of being left out« (Vortrag auf der re:publika 2015)“.
Fehlt auch der Polizei als Institution oder den Beamten[1] als ihre Protagonisten der „moralische Kompass“? Oder anders gefragt: Kann es eine Gesellschaft geben, in der eine Institution mit Gewaltmonopol für Sicherheit und Ordnung sorgen soll, die nicht über Moral, Ethik und Tugend(haftigkeit) verfügt? Wohl kaum.
Dabei kann Rechtsstaatlichkeit kein Ersatz sein für grundlegende moralische Werte, die eine Gesellschaft ausmachen und die daher auch und besonders in und bei der Polizei gelebt werden müssen.
Fragt man Polizeiauszubildende danach, warum sie den Beruf ergriffen haben, so bekam man früher meist die Antwort: „Um anderen Menschen zu helfen“. Inzwischen mögen andere Aspekte hinzugekommen sein wie „spannende Tätigkeit“, „sicherer Arbeitsplatz“, oder auch ein Gefühl der „Gruppenzugehörigkeit“, das man anderenorts vermisst. Dahinter mag sich so etwas wie ein Gefühl der moralischen Verpflichtung anderen gegenüber verbergen, aber dieses Gefühl versteckt sich zunehmend.
III.
Moral und Polizeiautorität. Gibt es da einen Zusammenhang?
In dem hier nun ausführlicher vorgestellten Beitrag der britischen Kollegen vom Institute of Social Justice and Crime der Universität Suffolk, Ipswich, England wird argumentiert, dass der moralischen Dimension der Polizeiarbeit angesichts der jüngsten Anfechtungen der polizeilichen Autorität, insbesondere durch dem Baroness Casey’s (2023) „Report into the Metropolitan Police Service (MPS)“, (Kurzfassung hier) aber auch durch Bewegungen wie „Black Lives Matter“, mehr Gewicht beigemessen werden sollte.
Die Autoren argumentieren, dass die Ideen von MacIntyre[2], die er 1981 erstmals zur Formulierung moralischer Grundsätze entwickelte, in der Polizeipraxis dazu beitragen können, unser Verständnis von Polizeiarbeit in einer Weise umzugestalten, die den Herausforderungen an ethisches und moralisches Handeln gerecht wird.
Insbesondere betonen sie die Notwendigkeit, die ethische Argumentation so zu normalisieren, dass die professionelle Polizeiarbeit nicht nur in rechtlicher, sondern auch in moralischer Hinsicht verstanden wird. Die Autoren erläutern, wie dieser Ansatz für die Polizeiarbeit durch die Polizeiausbildung entwickelt werden kann.
Polizeiliche Autorität ist ein wesentlicher Faktor, der das Handeln von Polizeibeamten leitet. Polizeiliches Fehlverhalten, so stellten wir schon 2008 und 2009 in unseren Bochumer Studien zur Rechtfertigung von Polizeigewalt fest, geht oftmals einher mit dem Empfinden, dass die eigene Autorität (als Beamter) oder die staatliche Autorität (der Polizei als Vertreter staatlicher Gewalt) nicht geachtet oder angemessen beachtet werde. Dies geschieht z.B. bei Widerstandshandlungen, aber schon dann, wenn Anweisungen der Beamten nicht Folge geleistet wird. Die Folge ist das Durchsetzen dieser Autorität, ggf. auch unter Inkaufnahme der Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Mit dem Zitat aus unserer Studie: "…, dann habe ich ihm auch schon eine geschmiert" haben wir Autoritätserhalt und Eskalationsangst als Ursachen polizeilicher Gewaltausübung beschrieben.
Ein Exkurs zur Autorität
Weber und Schophaus haben jüngst persönliche Theorien über die Autorität der Polizei anhand von qualitativen Interviews mit deutschen Polizeibeamten und Polizeianwärtern rekonstruiert und in vier sog. „Selbstschemata“ unterteilt, die sich aus folgenden Elementen zusammensetzen sollen[3]: Effektiver und bevorzugter Umgang mit möglichen Problemen, die bei der Polizeiarbeit auftreten; verschiedene normative Ordnungen, die das Verhältnis zwischen der Polizei und der Zivilgesellschaft definieren; Verweis auf wünschenswerte Persönlichkeitsmerkmale für Polizeibeamte und symbolische Repräsentationen von Polizeiautorität. Solche Selbstschemata beeinflussen ihrer Auffassung nach polizeiliche Interaktionen mit den Bürgern und offenbaren „eine Vielfalt von polizeilichen Vorstellungen über Autorität“.
Sie stellen aber meiner Meinung nach vor allem ganz unterschiedliche Aspekte dar, die einerseits eher utilitaristische Werte betreffen (Effektivität), andererseits normative Inhalte (Ordnungen) sowie eher individuelle Faktoren (Persönlichkeitsmerkmale). Die „symbolische Repräsentationen von Polizeiautorität“ ist dabei nur einer der vier Aspekte. Unklar bleibt, wie diese vier Aspekte im Alltagshandeln zusammengehen und sich gegenseitig beeinflussen. Vor allem aber bleibt unklar, ob sich dahinter nicht doch eine grundlegendere Einstellung verbirgt.
Die verschiedenen Selbstschemata der Autorität sollen ihren Ursprung in unterschiedlichen Hintergründen haben, wie z.B. der praktischen Erfahrung, der Ausbildung und allgemein akzeptierter gesellschaftlicher Normen. Zu Beginn ihres Beitrages betonen sie unter Bezugnahme auf nationale und internationale Studien, dass das Selbstbild der Polizei („of the police“; gemeint ist hier sicherlich aber das Selbstbild der Polizeibeamten) das Ausmaß der Gewalt gegen die Bevölkerung beeinflusst und dass Autorität in diesem Selbstverständnis wahrscheinlich eine zentrale Position einnimmt[4].
Traditionell sei dies mit der Polizeikultur und der Arbeitspersönlichkeit von Polizeibeamten erklärt worden, die auf die Aufrechterhaltung von Autorität und Dominanz fixiert sind und die Anwendung von Gewalt, Aggression, autoritäre Weltanschauungen und Widerstand gegen Veränderungen fördern. Dieser Ansatz würde aber, so die Autoren, die alltäglichen Herausforderungen übersehen, denen sich Polizeibeamte ausgesetzt sehen.
Als Ergebnis aus den mehr als 70 Interviews, die Weber und Schophaus mit Polizeibeamten in NRW durchgeführt haben, stellen sie fest, dass die persönlichen Theorien der Polizeibeamten „nuancierte Selbstschemata“ enthalten, was mit der Hypothese von Cockroft[5] korreliere, wonach die Polizeikultur vielfältiger und anfälliger für historische Veränderungen ist als angenommen, und dass sie Reflexionen von gemeinsamen Problemen in der Polizeiarbeit enthalten kann. Wenig überraschend ist dann die Feststellung, dass die Autorität der Beamten ihre Entscheidungsfindung beeinflusst und die persönlichen Theorien sowohl die interne Vielfalt und den Widerstand gegen Veränderungen innerhalb der Polizei widerspiegeln, als auch durch externe Faktoren wie gesellschaftliche Normen geprägt sei.
Am Ende ihres Beitrages stellen sie hypothetisch fest, dass in professionalisierten Kulturen die Polizei ein Selbstschema von Fachwissen annehmen und in hierarchischen Gesellschaften ein traditionelles Autoritätsschema vorherrschen könne.
Interne Faktoren, wie z. B. eine Führung, die Verfahrensgerechtigkeit (procedural justice) fördere, könnten ebenfalls Einfluss auf Selbstschemata haben. Alle diese Faktoren könnten sich auf normative Ordnungen, symbolische Rollen, Erwartungen an polizeiliche Persönlichkeitsmerkmale und Problemlösungsansätze auswirken. Es sei wichtig zu untersuchen, wie diese Faktoren in die Selbstschemata von Polizeibeamten integriert sind, da in Deutschland Autoritätskonzepte in der polizeilichen Ausbildung kaum systematisch thematisiert würden, obwohl ein Wandel hin zu einer „reflexiven Polizei“ diskutiert werde.
IV.
In diesen Verstehenskontext der „nuancierten Selbstschemata“ passt eine Annahme, dass es so etwas wie eine moralische Ausrichtung und Legitimität von polizeilicher Tätigkeit gibt, also eine Art Grundordnung, nicht hinein.
Genau hiermit beschäftigt sich der Beitrag von Marc Manning und Dominique Wood. Sie argumentieren, dass der moralischen Dimension der Polizeiarbeit angesichts der jüngsten Anfechtungen der polizeilichen Autorität mehr Gewicht beigemessen werden sollte.
Polizeiarbeit, so ihr Votum, müsse nicht nur in rechtlicher, sondern auch in moralischer Hinsicht verstanden werden.
Der Gedanke, dass die Ausübung der Polizeiarbeit eine moralische Grundlage erfordert, ist nicht neu, ebenso wenig wie die Förderung von Tugend und Charakter in der Polizeiarbeit. Manning und Wood erwähnen als Beispiel, dass schon 1948 darauf hingewiesen wurde, dass „der moralische Einfluss des Landpolizisten auf die Gemeinschaft nicht geringer ist als der des Pfarrers, des Arztes oder des Lehrers“.
In der Praxis, so schreiben sie, verschwinden diese Ideen jedoch immer wieder und tauchen nur auf, wenn die nächste Krise eintritt. Dazwischen werde die Polizeiarbeit sowohl intern als auch extern als eine Praxis gesehen, die in Gesetzgebung und Strafverfolgung verwurzelt ist. Die Polizeiarbeit in moralischen Begriffen zu denken, stelle diese Orthodoxie in Frage, trotz der etablierten soziologischen Darstellungen, die die friedenserhaltende Rolle der Polizei betonen, die keine rechtliche Grundlage hat. Hier würden richtigerweise Polizisten als „Politiker an der Straßenecke“ dargestellt, die sich mit den Rechten und Pflichten der Menschen befassen, oftmals auch ohne notwendigerweise rechtliche Praktiken anzuwenden, d.h. ohne polizei- oder strafrechtlich legitimiertes Handeln.
Tatsächlich ist polizeiliches Handeln weitaus mehr als Recht und Ordnung (wieder?)herzustellen. Bereits Mitte der 1980er Jahre führte ich die erste Studie[6] zu polizeilichem Alltagshandeln durch, in der ähnlich wie 1990 in der Studie zu Notrufen und Funkstreifenwageneinsätzen festgestellt wurde, dass Straftaten bei weitem nicht die Mehrheit der Einsätze ausmachen. Eine spätere Studie an der Hochschule in Villingen-Schwenningen hat dies bestätigt, auch wenn über die Jahre hinweg Einsätze im Zusammenhang mit (leichter) Kriminalität zugenommen hatten. Jedenfalls sind Hilfe- und Unterstützungshandlungen nach wie vor wesentlicher Bestandteil polizeilichen Handelns und auch der Bereich, in dem die Polizei die meisten positiven Rückmeldungen bekommt.
Die britischen Autoren stellen dann aber fest, dass es alltägliche, routinemäßige und „normale“ Mängel der Polizei gibt, die ganz allgemein das Vertrauen der Öffentlichkeit untergraben. Dazu gehören (latenter) Rassismus und übermäßige Gewalt. Gleichzeitig werde die Polizei dafür kritisiert, dass sie zu langsam auf die Veränderungen in der Gesellschaft reagiert. Der moralische Charakter der Polizei werde in Frage gestellt, und es werde an Versäumnisse erinnert, die den mangelnden Fortschritt unterstreichen. Es sei schwer, nicht verzagt zu sein, wenn es um die Zukunft der Polizei geht, und in dieser Hinsicht seien die Forderungen nach einer Finanzierung oder Abschaffung der Polizei oder Veränderung der Finanzierung („defund the police“) verständlich (s. dazu meine Besprechung des Buches von Vitale, The End of Policing).
Trotz der oben genannten Punkte und der gut dokumentierten Herausforderungen, mit denen die Polizei heute konfrontiert ist, sollte man aber feststellen, so die Autoren, dass viele Polizeibeamte den Wunsch haben, die Dinge richtig zu machen. Viele Polizeibeamte hätten eine positive Vorstellung davon, was eine gute Polizeiarbeit ist und wie wichtig es ist, die dafür erforderlichen Tugenden anzuwenden. Daher stelle sich die Frage, wie man auf dem Wunsch, die Dinge besser zu machen, aufbauen kann.
Diese Intention, seine Arbeit „besser“ zu machen und zu verstehen, warum man etwas tut und wie man dieses Tun optimieren kann, ist übrigens auch die Hauptmotivation der Polizeibeamten, die sich für den Bochumer Masterstudiengang Kriminologie, Kriminalistik und Polizeiwissenschaft bewerben, wie wir in mehreren Evaluationen festgestellt haben.
Es sei, so die britischen Autoren, wichtig, dass wir als Gesellschaft die Schwierigkeiten anerkennen, mit denen die Polizei konfrontiert ist, wenn wir überlegen, was getan werden muss. Sie argumentieren, dass die erforderlichen Veränderungen nicht einfach sind und von der Polizei allein nicht erreicht werden können. Gute Polizeiarbeit könne nicht einfach darauf reduziert werden kann, Befehle oder die Gesetze und die Politik des Tages zu befolgen.
Gute Polizeiarbeit erfordere ein Nachdenken über die Verbindung zwischen den Fakten, wie sie sich darstellen, und dem, was eine moralische, sowie eine rechtliche Reaktion erfordern würde. Die moralische Dimension könne ebenso wie die rechtlichen, praktischen und politischen Komponenten nicht von der Polizei allein geschaffen werden, sondern erfordere ein sinnvolles Engagement zwischen der Polizei und der Gemeinschaft, der sie dient.
Polizeiarbeit sei daher aber von Natur aus moralisch, ansonsten wäre sie robotermäßige Exekutiv von implantierten Routinen. Gute Polizeiarbeit erfordere, dass Polizeibeamte in ihrer beruflichen Praxis moralische Urteile fällen und diese Urteile von der Bevölkerung akzeptiert werden, weil sie dem moralischen Common Sense entsprechen.
V.
Dies gelte, so Manning und Wood, in allen gesellschaftlichen Kontexten. Dabei muss meiner Meinung nach aber berücksichtigt werden, dass es einen einheitlichen Common Sense nicht mehr oder zumindest nicht mehr in umfassender Form gibt. Grundlegende moralische Prinzipien sind zwar in (fast) allen Bevölkerungskreisen vorhanden, im Detail aber gibt es durchaus Unterschiede, die immer stärker werden, weil die Gesellschaft auseinanderdriftet. Während noch vor 20 Jahren eine vermittelnde Bürgerpolizei konsentiert war, wünschen sich heute zunehmend mehr Bürger (und Politiker) eine starke und schlagkräftige (im wahrsten Sinn des Wortes) Polizei.
Umso mehr müssen ethische Komponenten der Polizeiarbeit herausgearbeitet und festgelegt werden. Das kann durch einen „Code of Ethics“ erfolgen. Allerdings: Wenn ethische Erwägungen als extern und außerhalb dessen betrachtet werden, womit sich die Polizeiarbeit im Wesentlichen befasst, dann wird die Polizeiethik von den Polizeibeamten als abstrakte, unpraktische, nicht bindende Idee empfunden, die einer guten Polizeiarbeit im Wege steht.
Konkret gesprochen: Die schönsten Diskussionen in der Polizei über Werte und „Unternehmenskultur“ (wie in NRW), mögen sie auch anschließend als Poster an der Wand der Reviere und Büros genagelt werden, nützen nichts, wenn sie nicht im Alltag gelebt werden. Die ausführlichsten Leitbilder, egal wie sie entwickelt werden (ob extern oder intern) sind sinnlos, wenn es an der Umsetzung mangelt[7].
Um eine ethische Polizeipraxis zu fördern, die erstrebenswert und zielgerichtet ist und die positiven Gründe bekräftigt, die Beamte dazu bewogen haben, der Polizei beizutreten, muss die ethisch-moralische Polizeiarbeit in den konkreten und kontextualisierten Fällen der polizeilichen Praxis verankert werden. Dies wiederum setzt voraus, dass die Beamten von ihren eigenen Organisationen unterstützt werden, um dieses Ziel zu erreichen, und dies muss in den Gemeinschaften, in denen die Beamten tätig sind, verstanden und gewürdigt werden.
Die zentrale Bedeutung moralischen und ethischen Denkens, professioneller Entscheidungsfindung und praktischen Urteilsvermögens sind für eine gute Polizeiarbeit unverzichtbar und müssen daher gefördert werden. Dies muss auch, so Manning und Wood, das Herzstück des polizeilichen Lernens sein.
Führungsversagen und mangelnde Fehlerkultur, wie wir sie immer wieder der deutschen Polizei attestieren müssen, hindern nicht nur die Auseinandersetzung mit polizeilichen Grundtugenden und moralischen Grundeinstellungen, sondern sie desavouieren und unterminieren sie sogar, weil beides, Führungsversagen und mangelnde Fehlerkultur, nicht nur meist miteinander einhergehen, sondern auch den Eindruck des „So what?“ (Wen kümmert´s?) ebenso verstärken wie den des „Wir tun es, weil wir es können“ als (unmoralische) Begründung überschießender Gewalt.
Untätigkeit führt zu einer Duldungsspirale. Aus anfangs „schlechten Gewohnheiten“ werden manifeste negative Verhaltensweisen und Einstellungen. Dabei kennen die Vorgesetzten ihre Mitarbeitenden, wissen um Stärken und Schwächen. Eine mangelnde Fehlerkultur in der Polizei geht einher mit einer mangelnden Hilfekultur: Beamte müssen funktionieren, dürfen keine Probleme haben (und machen).
Es ist nicht damit getan, Polizeibeamte über Ethik zu unterrichten oder sie dazu zu bringen, eine Reihe von Prinzipien oder Tugenden zu lernen oder gar in Abschlussarbeiten aufzuschreiben. Vielmehr muss der Ansatz darin bestehen, Polizeiauszubildende dazu zu bringen, ethisch zu denken und an alle Aspekte ihrer Arbeit mit einer ethischen Einstellung heranzugehen, ohne dass sie sich dessen unbedingt bewusst sind. Nur dann wird das ethische Denken mit der Zeit zur zweiten Natur, er verankert sich auch im „schnellen Denken“, das den polizeilichen Interventionsalltag prägt, und bleibt nicht nur dem „langsamen Denken“ vorbehalten (zur Definition und Unterscheidung des von Kahneman eingeführten Begrifflichkeit s. unseren Beitrag) und den Vortrag an der Deutschen Hochschule der Polizei).
Der Schwerpunkt muss auf der Entwicklung eines beruflichen Praxisverständnisses liegen, in dem die Ethik der Tugend zur Verbesserung der polizeilichen Praxis genutzt wird und in dem alle an Einsätzen beteiligten Beamten das gleiche „mindset“ haben, also mit dem gleichen moralischen Grundverständnis ihre Arbeit verrichten.
Denjenigen, die dies nicht teilen, muss verdeutlicht werden, dass sie weder für die Mehrheit der Kollegen, noch für die Institution Polizei stehen. Polizeibeamte, die Fehlverhalten beobachten, müssen aus der passiven Rolle des Bystander heraustreten und intervenieren. Dazu müssen sie von ihren Vorgesetzten nicht nur motiviert, sondern anschließend auch entsprechend unterstützt werden. Sollte dies nicht möglich sein (s. „Widerstandsbeamte“), sind entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.
Schließlich muss in Auswahlverfahren deutlich gemacht werden, welche Grundwerte und moralischen Grundprinzipien von der Institution und jedem einzelnen Beamten erwartet werden. Dafür muss aber verbal und vor allem nonverbal, also durch Handeln, deutlich gemacht werden, wofür eine demokratische Polizei steht, und wofür nicht. Wer Zweifel an einer entsprechenden Einstellung aufkommen lässt, dem darf der Weg in die Polizei nicht eröffnet werden.
[1] Wie generell im Polizei-Newsletter wird auch hier dem Wunsch der Leser des PNL Rechnung getragen und auf das „Gendern“ verzichtet.
[2] MacIntyre A (1985) After Virtue. A Study in Moral Theory. 2nd edition. London: Duckworth. Alasdair MacIntyres „After Virtue“ war bei seiner Erstveröffentlichung im Jahr 1981 sehr umstritten und hat sich seither als wegweisendes Werk der zeitgenössischen Moralphilosophie etabliert. In diesem Buch versuchte MacIntyre, eine Krise der moralischen Sprache anzugehen, die er auf die europäische Aufklärung zurückführte, die die Formulierung moralischer Grundsätze zunehmend erschwert hatte. Auf der Suche nach einem Ausweg aus dieser Sackgasse kehrt MacIntyre zu einer früheren Strömung des ethischen Denkens zurück, nämlich zu Aristoteles, der die Bedeutung der „Tugend“ für das ethische Leben betonte.
[3] Im Original: „dealing effectively and preferably with possible problems occurring with police work; different normative orders that define the relationship between the police and civil society; a reference to desirable personality traits for police officers; and symbolic representations of police authority“.
[4] Unter Verweis auf Schöne und Herrnkind (2021): Die Fragilität polizeilicher Autorität. In: Polizei/Wissen 01(2021): 7–12.
[5] Cockroft (2017): Police culture: histories, orthodoxies, and new horizons. In. Policing. A Journal of Policy and Practice 11(3): 229–235.
[6] Polizeiliches Alltagshandeln- Eine Analyse von Funkstreifeneinsätzen und Alarmierungen der Polizei durch die Bevölkerung. In: Bürgerrechte und Polizei (CILIP), Heft 3, 1984, S. 11-24.
[7] Im Laufe meiner weltweiten Besuche von Polizeibehörden konnte ich immer wieder solche Poster, mehr oder weniger aufwändig gerahmt, an den Wänden meist der Polizeichefs, seltener z.B. in Schulungsräumen sehen. Die von mir dann beobachtete Praxis sah oftmals deutlich anders aus, egal ob dies in Rio de Janeiro, New York, Budapest oder Baku war.
(Wie) wirken sich Armut, Arbeitsplatz und Einkommen auf Kriminalität aus?
(Wie) wirken sich Armut, Arbeitsplatz und Einkommen auf Kriminalität aus?
I.
Der Frage, ob und ggf. welche ökonomischen Gründe es für Kriminalität gibt, geht die Kriminologie schon sehr lange nach. Hintergrund ist die sog. „rational-choice-Theorie“, die davon ausgeht, dass Individuen auf Basis einer rationalen Abwägung von Kosten und Nutzen handeln. Kriminelles Verhalten wird demnach als rationaler Entscheidungsprozess betrachtet, der durch individuelle Kosten-Nutzen-Kalkulationen motiviert ist.
Die Beantwortung der Frage, ob und welche ökonomischen (hinter-)Gründe es für die Begehung von Straftaten gibt, ist nicht nur für präventive und repressive Maßnahmen wichtig, sondern auch für die notwendigen, wenn auch zu selten angestellten Kosten-Nutzen-Analysen dieser Maßnahmen.
In der jüngsten Zeit ist es etwas still geworden um die Frage der ökonomischen Bedingtheit von Kriminalität, obwohl die Beantwortung durchaus auch eine Rolle spielen könnte in Verbindung mit der Straffälligkeit von Flüchtenden, die keine Arbeitserlaubnis haben und unter ökonomisch wie räumlich prekären Bedingungen leben. Vergleichbares gilt auch für Menschen, die sich schon länger in Deutschland aufhalten oder sogar hier geboren sind, aber keine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis haben.
Die besten verfügbaren empirischen Belege deuten darauf hin, dass es möglicherweise einen Zusammenhang zwischen Eigentumskriminalität und Armut, Arbeitstätigkeit bzw. Einkommen gibt, aber kaum einen Zusammenhang mit Gewaltkriminalität.
Der längere Beitrag des Monats Juni nimmt einen Aufsatz von Kollegen aus Chicago (USA) und Burnaby (Kanada) zum Anlass, dieses Thema noch einmal neu zu beleuchten.
II.
Im Jahr 2024 wurden in Deutschland von der Polizei rund 3.4 Mio. Straftaten aufgeklärt, wovon der Gewaltkriminalität 217.277 Fälle zugerechnet wurden. Das sind rund 6,4 %. Ungeachtet der Tatsache, dass die Definition von Gewaltkriminalität durchaus umstritten ist (so ist lt. BKA in der Gewaltkriminalität die gefährliche und schwere Körperverletzung enthalten, nicht jedoch die einfache Körperverletzung), ist die Unterscheidung auch und besonders für die Frage nach den Ursachen für diese Straftaten und einem möglichen Zusammenhang mit Armut und Arbeit(slosigkeit) von Bedeutung.
III.
Betrachtet man sich die gesellschaftlichen Kosten, die durch Straftaten hervorgerufen werden, dann geht das Gros dieser Kosten zulasten der Gewaltkriminalität. In den USA verursachen die Mordtaten 70% aller sozialen Kosten durch Straftaten, obwohl sie nur 0,2% aller taten ausmachen. Berechnet werden diese Kosten anhand sog. „willingness to pay“ (WTP) Studien (s. dazu und zu entsprechenden Kosten-Nutzen-Analysen die Studie von Caroline von der Heyden für Deutschland). Da die meisten Gewaltverbrechen aber Verbrechen aus Leidenschaft sind (einschließlich Wut), ist hier ein Zusammenhang mit Armut und Arbeit zumindest nicht offensichtlich.
Maßnahmen zur Linderung der materiellen Not, so wichtig und nützlich sie auch für die Verbesserung des Lebens und des Wohlbefindens der Menschen sind, scheinen daher allein nicht auszureichen, um auch die Belastung der Gesellschaft durch Kriminalität wesentlich zu verringern.
IV.
Einen positiven Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Kriminalität kann man damit begründen, dass Arbeitslosigkeit Armut erzeugt und so legale Wege zu Bedürfnisbefriedigung verringert. Aristoteles wird der Satz zugeschrieben: „Armut ist die Mutter der Kriminalität“.
Entscheidender dürfte letztlich aber die Frage sein, wie man sich selbst in seinem sozialen Umfeld und dabei insbesondere auch im Vergleich zu den peers oder Nachbarn sieht. Fühlt man sich hier abgehängt, ist die Gefahr, Eigentumsdelikte zu begehen um „mithalten“ zu können, vor allem für junge Menschen groß. Der soziale Vergleich und eine damit verbundene soziale Exklusion spielen eine wichtige Rolle.
Besonders für Jugendliche ist es wichtig, „dazu“ zu gehören, und dafür ist oftmals entweder ein gewisser finanzieller Spielraum oder die Zugehörigkeit zu bestimmten (auch delinquenten) Gruppen erforderlich. Schon früh (z.B. 1820 durch Quételet) hatte man Hinweise darauf, dass möglicherweise nicht die relative Armut (oder der relative Reichtum) eine Rolle spielt, sondern die sicht- und spürbaren Unterschiede im eigenen Lebensumfeld.
Zudem ist die Gefahr, in Situationen für solche Straftaten zu kommen, deutlich niedriger, wenn man einer geregelten Arbeit nachgeht. Dementsprechend ist regelmäßige Berufstätigkeit (oder schulische Bindung) einer der auch in Langzeitstudien nachgewiesenen wesentlichen Faktoren, die präventiv wirken – ebenso wie übrigens eine stabile Partnerbeziehung. Bricht beides weg, ist die Gefahr (wieder) straffällig zu werden, hoch.
Auf der anderen Seite gibt es einen negativen Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Kriminalität in der eigenen Wohngegend: Arbeitslosigkeit verändert die Aktivitätsmuster. Tagsüber sind mehr Personen zu Hause und können Haus und Nachbarschaft überwachen. Arbeitslosigkeit verringert auch den Reichtum/Besitz möglicher Opfer und reduziert somit Gelegenheiten. Da die meisten Straftaten in der eigenen Wohnumgebung begangen werden, kann Arbeitslosigkeit so zwar nicht individuell, aber strukturell für weniger Kriminalität sorgen.
Ein positiver Zusammenhang von Inflation und Kriminalität ist ebenfalls nachgewiesen: Inflation reduziert das Einkommen und verstärkt Armut. Mit dem Preis der Waren steigt auch der Wert krimineller Aktivitäten. Inflation verringert zudem die Möglichkeiten des Staates, Wohlfahrtsprogramme zu finanzieren oder in allgemeine Präventions- oder Abschreckungsmaßnahmen zu investieren.
V.
Insgesamt zeigen die bislang vorliegenden empirischen Studien daher auch widersprüchliche Ergebnisse:
Trotz der früher oftmals geäußerten Erwartung, dass arme Personen krimineller sind und ihre Zahl zu Zeiten ökonomischer Krisen zunimmt, fanden viele Studien bis in die 1990er Jahre keinen Anstieg der Kriminalitätsraten bei ökonomischem Niedergang. Dies widerspricht aber nicht der empirisch gesicherten Feststellung, dass es einen Zusammenhang zwischen sozialer Lage und Kriminalitätsbelastung gibt (zur Erklärung s. weiter unten). Noch stärker ausgeprägt waren Zusammenhänge mit struktureller Armut (Gesamtindex aus Kindersterblichkeit, Bildung, Alleinerziehendenrate und Einkommen) und Gesundheit.
Widersprüchliche Ergebnisse fanden sich zum Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Kriminalität bzw. Delinquenz: Einerseits schien Jugenddelinquenz negativ mit Arbeitslosigkeit zusammenzuhängen, andererseits fanden sich hier auch positive Zusammenhänge. Jugendarbeitslosigkeit kann sich in beide Richtungen auswirken. Wer arbeitslos ist und eine Arbeit oder einen Ausbildungsplatz sucht, der vermeidet es möglicherweise durch Straftaten aufzufallen, weil dadurch diese Berufsperspektiven beeinträchtigt werden. Umgekehrt kann die mit Arbeitslosigkeit verbundene übermäßige Freizeit und die Frustration, sich finanziell bestimmte Dinge nicht leisten zu können, dazu führen, dass man anfälliger für entsprechende Tatgelegenheiten oder Tatvorschläge von gleichaltrigen Jugendlichen ist.
VI.
Aktueller Forschungsstand
Zu Beginn der 1980er Jahre zeigten mehrere Überblicksarbeiten, dass höher Arbeitslosigkeitsraten mit höherer Kriminalität einhergehen. Aber bereits hier musste zwischen unterschiedlichen Kriminalitätsformen (Eigentums- und Gewaltkriminalität) differenziert werden. Zudem gab und gibt es diverse Definitionsprobleme in diesen Kontexten. Widersprüchliche theoretische Annahmen, die den Studien zugrunde lagen, produzierten auch unterschiedliche Ergebnisse, denn unterschiedliche Operationalisierungen können zu unterschiedlichen Ergebnissen führen.
Ebenfalls spielt der Faktor Zeit eine Rolle: Unterschiedliche Prozesse können sich durchaus in unterschiedlichen Zeitrahmen verschieden auswirken. So ist denkbar, dass Veränderungen der Kriminalitätsraten eine andere Geschwindigkeit haben als Veränderungen der ökonomischen Lage. „So kann Arbeitslosigkeit die Motivation zu krimineller Aktivität fördern, jedoch kann dieser Effekt verzögert eintreten, da Arbeitslosigkeit z.B. durch erste Unterstützungsprogramme oder noch vorhandene Ersparnisse nicht sofort negativ erfahren wird. Ein mit Wirtschaftsaufschwung verbundene Zunahme von Wohlstand kann demgegenüber sofort wirksam werden, so dass bei ökonomischen Veränderungen sich die Gelegenheiten zu Kriminalität schneller verändern als die Motivation, was sich bei Auf- und Abschwung jedoch unterschiedlich auswirkt“ (1).
Eine Vielzahl der Studien zu Kriminalität und ökonomischer Lage untersucht Zeitreihen: Zeitreihenanalysen sind aber notorisch schwierig. Unterschiedliche Annahmen und Verfahren können zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen führen und es ist nicht immer klar, welche Annahmen angemessen oder unangemessen sind.
Zudem bleibt bei all diesen Studien das Grundproblem bestehen: Zeitreihenstudien oder auch vergleichende Studien berücksichtigen immer mehr oder weniger große Kohorten von Menschen, nie aber individuelle Entwicklungen oder Entscheidungen. Solche Einzelfallstudien sind, sieht man von der Karriereforschung ab, eher selten und werden wissenschaftlich von den meisten Kollegen auch als nicht aussagekräftig bewertet. Allerdings kann nur der Blick auf das Individuum letztlich Aussagen dazu zulassen, was für die konkrete Person bei der konkreten Tatbegehung ausschlaggebend war.
Querschnittsstudien, die mit Gebietsvergleichen arbeiten, übersehen zudem oftmals, dass Gebiete mit hohen Kriminalitätsraten eine Vielzahl von (sozialen) Problemen aufweisen, die nur bedingt bei der Analyse berücksichtigt werden können, weil z.B. die vorhandenen Daten aufgrund unterschiedlicher geografischer oder inhaltlicher Differenzierungen nicht miteinander vergleichbar sind.
Der Equality Trust hatte 2011 auf der Grundlage der Arbeit von Wilkinson und Pickett (The Spirit Level, 2009) einen Zusammenhang zwischen ungleichem Einkommen innerhalb der Bevölkerung und der Anzahl der Gewalt- und Tötungsdelikte, der Gesundheit der Bevölkerung, Fettleibigkeit der Bevölkerung und Teenager–Schwangerschaften festgestellt.
Die Abbildungen unten (Quelle), vor mehr als 10 Jahren in meinen Vorlesungen in Bochum verwendet, machen dieses Problem deutlich. Der offensichtlich erkennbare Gleichschritt zwischen schwacher Sozialstruktur und Kriminalitätsbelastung bestimmter Bezirke in Hamburg hat sich seit diesem Zeitpunkt nicht verändert – allerdings werden seit 2012 entsprechende Abbildungen von der Stadt Hamburg nicht mehr bereitgestellt. Offensichtlich hat man Angst vor der stigmatisierenden Wirkung solcher Darstellungen. Die Augen vor den offensichtlichen Problemen zu verschließen, hat jedoch noch nie funktioniert.
In solchen benachteiligten Gebieten ist es besonders schwierig, die wirklich entscheidenden Faktoren für eine hohe Straftatendichte zu isolieren, zumal diese Faktoren untereinander mehr oder weniger korrelieren und somit auch konfundiert sind. Auch der bundesweite Vergleich zum Thema Armut und Kriminalität, ebenfalls in der Abbildung aus meiner damaligen Vorlesung entnommen, macht des deutlich.
VII.
Fest steht, dass Einkommensungleichheit und Armut klar auseinandergehalten werden müssen, denn einer der bis vor kurzem konsistentesten Befunde entsprechender empirischer Studien war der Zusammenhang zwischen Einkommensungleichheit und Gewaltkriminalität. Es kommt dabei jedoch auch auf die Bezugsgruppe an: Ungleichheit innerhalb unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen (Ausländern und Einheimischen, Schwarzen und Weißen) wirkt unabhängig von (und zusätzlich zur) Ungleichheit zwischen diesen Gruppen.
Ebenfalls ein konsistentes Ergebnis scheint der Zusammenhang von ökonomischer Ungleichheit und Gewaltdelinquenz zu sein. Auf der Ebene von Nachbarschaften scheint Arbeitslosigkeit ein bedeutsamerer Faktor zu sein als Armut. Wie Armut wirkt, hängt offenbar von weiteren Faktoren auf der Ebene der Nachbarschaften ab, möglicherweise von der Schnelligkeit der sozialen Veränderungen.
Auch in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur wird ein positiver Zusammenhang zwischen Einkommensungleichheit und Kriminalität angenommen. Trotz dieses Konsenses haben sich die empirischen Belege jedoch schwergetan, eindeutige Schlussfolgerungen zu ziehen. 2024 wurde durch eine Meta-Analyse auf der Grundlage von 1.341 Schätzungen aus 43 Studien in wirtschaftswissenschaftlichen Fachzeitschriften versucht, diese Fragen zu beantworten. Die Ergebnisse deuten auf einen statistisch signifikanten, aber wirtschaftlich unbedeutenden tatsächlichen Effekt von Ungleichheit auf die Kriminalität hin. Wenn es also eine Auswirkung der Ungleichheit auf die Kriminalität gibt, dann ist sie bestenfalls minimal.
VIII.
Zusammenfassung
Die bislang vorliegenden empirischen Ergebnisse zeigen, dass Armut und Arbeitslosigkeit, wenn überhaupt, dann nur Eigentumskriminalität beeinflussen. Auch Ungleichheit, die eine größere Rolle dabei spielt, ist möglicherweise nicht der primäre Motivator für kriminelles Verhalten, andere Faktoren könnten eine wichtigere Rolle spielen.
Nicht übersehen werden dürfen daher die Probleme, die indirekt mit Armut und/oder Arbeitslosigkeit und Ungleichheit verbunden sind und so wahrscheinlich einen entscheidenden Einfluss auf die Begehung von Straftaten haben. Dazu gehören
- eine schlechte Gesundheitsversorgung, vor allem bei Abhängigkeiten von legalen oder illegalen Drogen, aber auch in Verbindung mit Fehlernährung, Übergewicht oder lebensstilbedingten Krankheiten wie Diabetes;
- das Risiko häuslicher (auch sexualisierter) Gewalt im Kindes- und Jugendalter, da Gewalterfahrungen in der Kindheit und Jugend nachweislich ein wesentlicher Faktor für spätere Straffälligkeit sind, wobei die derzeit zumeist diskutierten Misshandlungsformen nicht die Komplexität der Gewalterfahrungen in der Kindheit abbilden. Daher müssen körperliche, psychische und sozialen Folgen der Misshandlungen oder Vernachlässigungen einbezogen werden und ein multifaktorieller Ansatz berücksichtigt werden;
- Ausgrenzungen (z.B. bei psychischen Problemen oder Wohnungslosigkeit), die dazu führen, dass sich Menschen nicht mehr zur Mehrheitsgesellschaft zugehörig fühlen und daher glauben, sich nicht (mehr) an informelle, gesellschaftliche Vereinbarungen halten zu müssen. Dabei spielt auch die „Kriminalität der Mächtigen“ eine Rolle: Wenn Politiker, Wirtschaftsführer oder Banker im großen Stil Gesetze missachten (Korruption, Dieselskandal, cum-ex-Geschäfte u.a.m.), dann hat dies Auswirkungen auf die Rechtstreue der Bevölkerung;
- mangelnde soziale und gesellschaftliche Perspektiven, die dazu führen, dass man den Glauben an einen gesellschaftlichen Aufstieg oder zumindest eine akzeptierte Rolle in dieser Gesellschaft verliert (oder auch nie wirklich entwickelt);
- psychische Beeinträchtigungen und Belastungen, die nicht ausreichend durch die zuständigen psycho-sozialen Institutionen wahrgenommen und/oder betreut werden (können).
Letzteres gilt auch und besonders für (junge) Menschen mit Fluchterfahrungen. Wenn rund ein Drittel der sich in Deutschland aufhaltenden Geflüchteten psychische Probleme haben (wie z.B. kriegs- oder fluchtbedingte Traumata, Posttraumatische Belastungsstörungen u.a.m.), dann führen diese Probleme nicht automatisch in die Straffälligkeit. Ausgrenzungserfahrungen und marginalisierende Unterbringung in Heimen können diese Faktoren jedoch intensivieren.
Insgesamt betrachtet ist bei Gewaltdelikten der direkte ökonomische Einfluss durch Arbeitslosigkeit und Armut eher gering, zumal die meisten Gewalt- oder Tötungsdelikte keinen unmittelbaren Zweck verfolgen, also nicht utilitaristisch zu lesen sind. Andererseits gehen Gewaltdelikte häufig (zumindest in der bundesdeutschen – noch – Mehrheitsgesellschaft) mit Alkohol- und Drogenmissbrauch einher, was ungeachtet der finanziellen Aspekte auch zu eskalierenden Konflikten führen kann.
Thomas Feltes, 28.05.2025
Vertrauen in die Polizei bei Muslimen und Migranten. Wissenschaftliche Ergebnisse und kriminalpolitische Konsequenzen.
Vertrauen in die Polizei bei Muslimen und Migranten
Der Beitrag geht der Frage nach, was wir zum Vertrauen in die Polizei von Muslimen und Menschen mit Migrationshintergrund wissen und welche Rolle dieses Vertrauen für die Polizeiarbeit aktuell und in der Zukunft spielt. Ausgangspunkt dazu ist eine Studie aus Australien, die der Frage nachgeht, wie eine stigmatisierte Gruppe (Muslime) die Behandlung durch die Polizei antizipiert und welche Auswirkungen dies auf das Vertrauen in die Polizei hat. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass das Ausmaß, in dem Menschen Diskriminierung oder ungerechte Behandlung durch die Polizei antizipieren, mit ihrem Vertrauen in die Polizei zusammenhängt.
- Die Ausgangslage in Deutschland
Derzeit leben etwa sechs Millionen Muslime in Deutschland (das sind rund 6 % der Wohnbevölkerung), 25 Millionen haben einen Migrationshintergrund (das sind rund 30 %, Tendenz steigend). Schätzungen gehen davon aus, dass es bis zu 10 Millionen im Jahr 2030 sein werden. Nach den rund 45 Millionen Angehörigen christlicher Kirchen (50 % der Gesamtbevölkerung) bilden muslimische Menschen mit deutlichem Abstand die zweitgrößte religiöse Bevölkerungsgruppe in unserem Land.
2023 wurden die Ergebnisse einer bundesweiten Repräsentativbefragung veröffentlicht, die das Thema "Muslimisches Leben in Deutschland 2020" hatte. Sie war im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz durchgeführt worden. Danach nehmen Menschen mit Migrationshintergrund aus muslimisch geprägten Herkunftsländern Benachteiligungen in Alltagsituationen, bei der Benotung in der Schule, bei der Arbeits- und Wohnungssuche anteilig häufiger wahr als Menschen ohne Migrationshintergrund. Türkeistämmige Personen berichten häufiger von Diskriminierungserfahrungen als Personen mit Migrationshintergrund aus Südosteuropa. Muslimische Frauen, die ein Kopftuch tragen, sehen sich in allen untersuchten Bereichen mit höherer Wahrscheinlichkeit benachteiligt als muslimische Frauen, die kein Kopftuch tragen. Im Ergebnis fassen die Autorinnen der Studie zusammen, dass sich viele Menschen aus muslimisch geprägten Herkunftsländern nicht als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft anerkannt sehen.
Im Oktober 2024 hat ein Bericht der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte gezeigt, dass jede zweite Person muslimischen Glaubens in der EU in ihrem Alltag mit Rassismus und Diskriminierung konfrontiert ist. Diese Zahl ist seit 2016 stark gestiegen. Deutschland liegt mit 68 Prozent weit über dem EU-weiten Durchschnitt. Muslimische Frauen, Männer und Kinder werden dabei nicht nur wegen ihrer Religion zur Zielscheibe, sondern auch wegen ihrer Hautfarbe und ihres ethnischen Hintergrunds oder weil sie Migranten sind. Besonders betroffen sind junge Muslime, die in der EU geboren sind.
Ein „Zivilgesellschaftliches Lagebild antimuslimischer Rassismus“ hat für 2023 gezeigt, dass täglich im Schnitt mehr als fünf antimuslimische Übergriffe in Deutschland stattfinden, darunter Diskriminierungen, verbale und körperliche Angriffe oder Sachbeschädigungen. Dabei war ein Anstieg von mehr als 100 % im Vergleich zum Vorjahr festzustellen. „Menschen werden zur Zielscheibe, weil sie muslimisch sind, oder weil man annimmt, sie seien muslimisch –aufgrund der Sprache, des Namens, der tatsächlichen oder zugeschriebenen Herkunft oder des Aussehens“.
Aufgrund der verschiedenen Vorfälle im Jahr 2024 dürfte sich diese Entwicklung bis heute eher verschärft haben, entsprechend ist die Zahl islamfeindlicher Delikte stark angestiegen. Die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion Gruppe Die Linke im Deutschen Bundestag zur Islamfeindlichkeit und antimuslimische Straftaten im vierten Quartal 2024 hat dies gezeigt.
Muslimfeindlichkeit ist nicht nur in der Gesellschaft weit verbreitet (Schätzungen gehen von einem Anteil von 50% der Deutschen Bevölkerung aus), sondern auch eine Alltagserfahrung für viele Muslime in Deutschland. Muslimfeindlichkeit gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt und ist deshalb ein Problem für die Gesamtgesellschaft. Aber nicht nur deshalb: Wenn Muslime oder generell Migranten in Deutschland das Vertrauen in die Polizei verlieren (und die Ereignisse rund um den NSU-Skandal haben dazu ebenso beigetragen wie die in den letzten Monaten immer wieder bekanntgeworden rassistischen Vorfälle in der Polizei), dann …
Die Zunahme bei muslimfeindlicher Einstellung in der Polizei hat auch die MEGAVO-Studie nachgewiesen. Die Studie beinhaltete auch Fragen hinsichtlich der Einstellung der Polizisten in Bezug auf Minderheiten und Autoritarismus. Dort hat sich im Vergleich der beiden Befragungszeiten (2021/22 und 2023) eine Zunahme bei der Muslimfeindlichkeit abgezeichnet. In der zweiten Befragungsrunde stieg der Anteil derjenigen, die einer muslimfeindlichen Einstellung zustimmten auf 17 Prozent an. 42 Prozent der Befragten waren Asylsuchenden gegenüber ablehnend eingestellt. Vor allem aber: Jeder Dritte berichtet über rassistische Äußerungen in der Polizei. Man darf dabei davon ausgehen, dass nicht nur die Definition dessen, was innerhalb der Polizei als „rassistisch“ gesehen wird, eine andere ist als in weiten Teilen der Bevölkerung, sondern auch unterstellen, dass sich in dieser Befragung der Effekt der „sozialen Erwünschtheit“, den wir bei Befragungen immer wieder beobachten, bemerkbar gemacht hat. Die tatsächlichen Werte dürften daher (vielleicht sogar deutlich) höher liegen.
- Muslime, Überwachung und Vertrauen in die Polizei: Die Studie aus Australien
Gleichzeitig sind Muslime einer verstärkten Überwachung durch die Polizei und die breite Öffentlichkeit ausgesetzt. Dieses Misstrauen wurde mit dem mangelnden Vertrauen der Muslime in die Polizei in Verbindung gebracht. Bislang gab es jedoch keine Forschungsarbeiten, die untersucht haben, wie die Erwartungen der Migranten an ihre Behandlung diese Ansichten beeinflussen. Unter Verwendung eines explorativen qualitativen Designs untersucht diese Studie, wie eine stigmatisierte Gruppe (Muslime aus dem Nahen Osten, die in Sydney, Australien, wohnen) die Behandlung durch die Polizei antizipiert (also erwartet) und welche Auswirkungen diese erwartete (Un-)Gerechtigkeit auf das Vertrauen hat. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass das Ausmaß, in dem Menschen Diskriminierung oder ungerechte Behandlung durch die Polizei antizipieren, mit ihrem Vertrauen in die Polizei zusammenhängt, und zwar sowohl bei Personen, die zuvor positive als auch negative Erfahrungen mit Polizeibeamten gemacht haben. Die Studie unterstreicht außerdem die Dualität des individuellen Vertrauens und die Frage, unter welchen Bedingungen die Menschen der Polizei vertrauen, dass sie oder andere fair behandelt werden.
Das methodische Design
Die Studie ist Teil eines größeren Projekts, das die Wahrnehmung der polizeilichen Voreingenommenheit unter Muslimen der ersten und zweiten Generation mit Wohnsitz in Sydney, Australien, untersucht. Dabei geht es um die wahrgenommene polizeiliche Behandlung von Bürgern, den Kontakt mit Polizeibeamten und die Viktimisierung. Nach Abschluss der Umfrage wurden die in der ersten Studie Befragten gefragt, ob sie an einer Folgestudie interessiert wären. Dies bildete den ersten Stichprobenrahmen für die Interviews, die in Phase 2 geführt wurden. Von hier aus wurden sowohl Schneeballproben als auch die eigenen Netzwerke des Autors genutzt, um spätere Teilnehmer zu rekrutieren.
Die stützt sich auf halbstrukturierter Interviews mit 12 Muslimen, die 2019 durchgeführt wurden. Alle Interviews wurden an öffentlichen Orten wie Cafés, Bibliotheken und Parks geführt. In jedem Ort wurde eine ruhige Gegend abseits anderer Gäste gewählt, um sicherzustellen, dass die Teilnehmer ihre Erfahrungen teilen konnten, ohne sich um andere zu kümmern. Die Interviews dauerten im Durchschnitt 47 Minuten (von 28 bis 78 Minuten). Jeder Teilnehmer erhielt eine 50-Dollar-Geschenkkarte für seine Zeit.
Die Interviews wurden verwendet, um die Wahrnehmung der Teilnehmer über fünf Themenbereiche zu sammeln: ihr Vertrauen in die Polizei; ihre Erfahrungen mit der Polizei; wie sie erwarteten, dass sie von Polizeibeamten angesehen und während informeller Stationen behandelt würden und schließlich die Wahrscheinlichkeit, Verbrechen zu melden.
Zu den identifizierten Themen gehörten: Anerkennung individueller Unterschiede zwischen Polizeibeamten; Verhalten und Änderung des Aussehens, um negative polizeiliche Aufmerksamkeit zu vermeiden; erwartete Behandlung durch die Polizei; wahrgenommene polizeiliche Voreingenommenheit, die auf der Lokalität basiert; externe Auswirkungen auf das Vertrauen und Vorschläge, wie die Polizei die Beziehungen zu Mitgliedern der Gemeinde des Nahen Ostens verbessern könnte.
Die wesentlichen Ergebnisse
Während die meisten Teilnehmer Vertrauen in die Polizei hatten, gaben vier Teilnehmer an, dass sie sich über die Polizei unsicher seien und folglich vorsichtig mit ihren Interaktionen. Dies wurzelte in der Wahrnehmung, dass Polizeibeamte oft aggressiv, einschüchternd und respektlos waren. Auf die Frage nach ihren Erfahrungen mit der Polizei diskutierten fast alle Befragten über individuelle und/oder stellvertretende Erfahrungen informeller Polizeistopps.
Auf die Frage, wie sie die Polizei insgesamt sehen, zögerten drei Viertel der Teilnehmer, breite Verallgemeinerungen über „die Polizei“ als eine einzigartige Einheit zu machen. Sie erklärten, dass der örtliche Polizeidienst aus einzelnen Beamten mit ihren eigenen Persönlichkeiten, Erfahrungen und Vorurteilen bestand. Dementsprechend behaupteten die Teilnehmer, dass es weder möglich noch genau sei, den Dienst als homogene Gruppe zu bewerten. Vielmehr erklärten sie, dass die Qualität der Behandlung, die man von einem Polizeibeamten erhält, von dem bestimmten Polizeibeamten abhängt, dem man begegnet. Diese Differenzierung unterstreicht die multidimensionale Wahrnehmung der Bürgerwahrnehmung der Polizei, die über vereinfachende Verallgemeinerungen hinausgehen.
Fast die Hälfte der Teilnehmer gab an, dass ein Polizeibeamter, der sich ihnen näherte, Angst auslöst. Sie führten dies darauf zurück, nicht zu wissen, wie sich diese Interaktion entwickeln könnte. Bemerkenswert ist, dass Teilnehmer mit größerer persönlicher Erfahrung mit der Polizei berichteten höher Unsicherheit über ihre Behandlung. Hier war die bloße Möglichkeit einer schlechten Behandlung und der Unvorhersehbarkeit von Polizeibegegnungen mit der Nervosität über polizeiliche Interaktionen verbunden.
Alle vier weiblichen Interviewpartner gaben an, dass sie als Frauen glaubten, dass die Polizei sie wahrscheinlich gut oder besser behandeln würde, als sie einen muslimischen Mann behandeln würden. Dies wurde von fast der Hälfte der männlichen Teilnehmer wiederholt, die die Ansicht teilten, dass die Polizei muslimische Frauen besser und mit mehr Fairness behandelt, als sie normalerweise muslimische Männer behandeln.
Die Polizei ist auf Bürger angewiesen, um effektiv auf Verbrechen zu reagieren und Straftaten aufzuklären. Ohne Unterstützung durch Zeugen können nur die wenigsten Taten aufgeklärt werden. Daher kann eine Zurückhaltung oder gar Ablehnung, mit der Polizei zusammenzuarbeiten, schwerwiegende Auswirkungen auf die öffentliche Sicherheit haben. Diejenigen, die das Gefühl haben, dass die Polizei und die breitere Gesellschaft sie als verdächtig ansehen, werden wahrscheinlich Begegnungen mit Beamten vermeiden. Forschungen deuten darauf hin, dass die Stigmatisierung der Bürger beeinflussen kann, wie Menschen Interaktionen mit Polizeibeamten beurteilen, auch wenn sie objektiv und respektvoll behandelt werden.
Während Misshandlung durch die Polizei oder Machtmissbrauch mit ziemlicher Sicherheit zu einer negativen Wahrnehmung der Polizei führen wird, bleibt unklar, ob diejenigen, die Ungerechtigkeit erwarten, eine faire Behandlung als solche wahrnehmen, wenn sie sich ereignet. Um diese Lücke zu schließen, untersucht diese Studie, wie Muslime erwarten, während der täglichen Begegnungen von der Polizei behandelt zu werden, und ob bzw. wie antizipative Wahrnehmung von Gerechtigkeit mit ihrem Vertrauen in die Polizei zusammenhängt.
Vertrauen wird auf unterschiedliche Weise konzipiert und definiert. Wenn es um die Polizei geht, ist das Vertrauen der Bürger größer, wenn man glaubt, dass die Polizei sich fair und rechtsstaatlich verhält. Ob Vertrauen verliehen wird, hängt auch davon ab, inwieweit man glaubt, dass die Polizei ihre Aufgaben respektvoll und professionell erfüllen wird. Vertrauen, oder ein Mangel daran, basiert auf einer anhaltenden Beziehung zwischen Polizeibeamten und Bürgern und eigenen oder übermittelten Erfahrungen mit der Polizei. Wenn Menschen zu einer stigmatisierten Gruppe gehören oder polizeiliche Voreingenommenheit wahrnehmen, zeigen sie weniger Vertrauen in die Polizei. Diejenigen, die sich stärker stigmatisiert fühlen, vertrauen der Polizei weniger und stehen einem polizeilichen Kontakt eher skeptisch gegenüber.
Polizeibeamte, die sich fair und respektvoll verhalten, können Vertrauen fördern. Dabei spielt aber auch die Erwartung eine wesentliche Rolle. Wer erwartet, von der Polizei nicht fair und respektvoll behandelt zu werden, der entwickelt kein Vertrauen in die Polizei und ist eher nicht bereit, mit ihr zusammenzuarbeiten.
Die Auswirkungen von „vorausschauender“ bzw. erwarteter Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit sind noch zu wenig empirisch untersucht. Die aktuelle Studie versucht zu verstehen, wie Mitglieder einer stigmatisierten Gruppe erwarten, von der Polizei behandelt zu werden, und wie dies mit ihrer Vertrauensvergabe an die Polizei zusammenhängt.
Die Studie hat auch festgestellt, dass Menschen, die mehr Kontakt mit der Polizei hatten, weniger sicher sind, ob sie fair behandelt werden. Auf diese Weise bringen sie bestimmte Erwartungen in den Kontakt ein, wie die Polizei sie behandeln wird. Wenn aber die Qualität der polizeilichen Behandlung von zentraler Bedeutung für die Beurteilung des Vertrauens und des Vertrauens in die Polizei ist, dann muss zum einen untersucht werden, wie dieser Zusammenhang genauer zu erklären ist und wie das Vertrauen der Bürger in die Polizei positiv beeinflusst werden kann.
Kritik und Einschränkungen
Die Ergebnisse basieren auf einer recht kleinen Anzahl von Interviews in einem Gebiet von Sydney, Australien. Angesichts der geringen Anzahl von Interviews und der Verwendung des Schneeballsystems besteht die Möglichkeit, dass die Ergebnisse verzerrt sind und nicht alle Themen und Aspekte des Vertrauensverhältnisses zwischen Bürger und Polizei abdecken. Angesichts des explorativen Charakters dieser Studie bieten die hier vorgestellten Ergebnisse aber einen guten Ausgangspunkt, um mit weiteren Untersuchungen ein breiteres Verständnis dafür zu schaffen, wie stigmatisierte und nicht stigmatisierte Gruppen von der Polizei behandelt werden.
- Die Lage in Deutschland: Was müssen wir tun?
Im März 2025 ist in einem Gastkommentar des islamischen Theologen Scharjil Khalid in der taz von „fataler Normalisierung“ im Kontext von rechten und vor allem fremdenfeindlichen Narrativen die Rede. Gemeint ist die Tatsache, dass sie sich immer stärker den Weg in die gesellschaftliche Mitte bahnen. Den Vorteil davon haben vor allem rechtspopulistischen Parteien, allen voran die AfD, die zwischenzeitlich in Bevölkerungsbefragungen sogar die CDU ein- bzw. überholt hatte. Aber auch etablierte Parteien greifen zunehmend die migrations-skeptischen Narrative auf. Damit normalisieren sie Positionen, die einst als extrem galten. So stellt das Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften bereits 2023 fest, dass einwanderungsfeindlicher Sprachgebrauch den Wähleranteil rechtsextremer Parteien erhöht.
Migranten werden zunehmend als politische Sündenböcke instrumentalisiert und migrantische Jugendliche übernehmen diese Sündenbock-Funktion im Bereich der inneren Sicherheit, sie dienen der Gesellschaft als wohlfeile Ausrede, die Schuld bei anderen zu suchen (und zu finden). Kritik an den Schlagzeilen findet sich selten, und wenn Wissenschaftler die Bewertung der Zahlen in Frage stellen, in dem sie feststellen, dass es zwischen Herkunft und Kriminalität keinen signifikanten Zusammenhang gibt und stattdessen die Kriminalitätsrate vor allem durch den Wohnort von Tätern sowie andere demografische Faktoren bestimmt wird, dann werden sie selbst als voreingenommen kritisiert.
Generell stellt Scharjil Khalid fest, dass Muslime unter Generalverdacht stehen und oft vorschnell ein Analogieschluss von „Migrantenkriminalität“ hin zum „Islamismus“ gezogen wird. „Die Zahlen sprechen jedoch eine andere Sprache: Die Anzahl der „islamistischen Gefährder“ liegt laut BKA bei „nur“ 483 Personen – das entspricht lediglich 0,0085 Prozent der in Deutschland lebenden Muslime. Während etwa 6 Millionen Muslime aufgrund von lediglich 500 Personen unter Generalverdacht gestellt werden, rückt die eigentliche Gefahr in den Hintergrund: der Rechtsextremismus. 2023 gab es laut Verfassungsschutzbericht 40.600 Rechtsextremisten in Deutschland“.
Wenn aber fast die Hälfte der unter Fünfjährigen heute einen Migrationshintergrund hat, dann braucht man nicht besagten Adam Riese zu bemühen um festzustellen, dass diese Menschen nicht das Problem, sondern die Zukunft unseres Landes sind – und zwar ungeachtet möglicher Einschränkungen bei Migrationsbewegungen. Diese Menschen sind bereits in Deutschland, und sie werden Deutschland hoffentlich nicht verlassen, denn wir brauchen sie. Die Zusammenhänge zwischen Migration und demographischem Wandel sind ausreichend erforscht. Diese Menschen stellen auch deswegen unsere Zukunft dar, weil wir ein massives Problem des Fachkräftemangels haben. Bis 2035 gehen 18 Millionen Menschen in den Ruhestand, während nur 11 Millionen nachrücken. Diese Lücke kann ohne Zuwanderung unmöglich geschlossen werden.
Ablenkung von den wirklichen Problemen durch die Definition von Sündenböcken ist kein neues Phänomen. Die Fokussierung auf Migration als Problemthema lenkt von anderen, weitaus größeren Herausforderungen ab. So entgehen dem deutschen Staat jedes Jahr jeweils über 100 Milliarden Euro durch Steuerhinterziehung und Geldwäsche – von anderen Formen der Wirtschaftskriminalität ganz zu schweigen.
Diskriminierung von Minderheiten zerstört aber auch das Vertrauen in Staat. Wenn mehr als die Hälfte der rassistisch markierten Menschen regelmäßig Benachteiligung erfährt, dann gehen damit oft auch psychische Probleme einher, wie der Bericht des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitor (NaDiRa) zeigt. Danach gaben 54 Prozent der zwischen 2022 und 2024 befragten rassistisch markierten Personen gaben an, mindestens einmal pro Monat Diskriminierung zu erfahren.
Besonders betroffen sind muslimische und Schwarze Frauen sowie Schwarze Männer. In diesen Gruppen berichten jeweils fast zwei Drittel der Befragten, dass sie regelmäßig benachteiligt werden. Auch beim Kontakt mit der Polizei kommt es oft zu Diskriminierung: 19 % der muslimischen und 18 % der Schwarzen Männer berichten von solchem Verhalten von Polizisten.
Die Umfrage zeigt aber auch, welches Gedankengut sich hinter diskriminierendem Verhalten verbirgt. Demnach hat etwa jeder Fünfte in Deutschland gefestigt rassistische Überzeugungen und stimmt etwa Aussagen zu, dass ethnische und religiöse Minderheiten in den letzten Jahren wirtschaftlich mehr profitiert hätten, als ihnen zusteht. Ungefähr so viele finden auch, dass Minderheiten ungerechtfertigterweise mehr Gleichberechtigung fordern.
Jeder Dritte Diskriminierungsbetroffene zeigt mittlere bis schwere Anzeichen von Depressionen oder Angststörungen. Eikmanns stellt in der taz dazu fest: „Daraus lässt sich zwar noch nicht ablesen, dass diese Symptome direkt auf die Diskriminierungserfahrungen zurückgehen. Der Vergleich mit nichtbetroffenen, aber ebenfalls rassistisch markierten Menschen, von denen nur 10 Prozent solche Symptome haben, lässt aber erahnen, wie groß der psychische Druck durch Benachteiligung sein dürfte“.
Auch auf das Vertrauen in Staat und Gesellschaft haben Diskriminierungserfahrungen laut NaDiRa-Monitor starken Einfluss. Der Anteil derjenigen, die angeben, dem Staat zu vertrauen, hat im Untersuchungszeitraum (2022 – 2024) über alle Gruppen hinweg abgenommen, bei muslimischen und Schwarzen Menschen sank der Wert aber auffallend stark um rund 20 Prozentpunkte. Besonders rapide sank das Vertrauen in Behörden und Ämter unter denjenigen, die von Polizisten diskriminiert wurden. Unter Muslimen ohne solche Erlebnisse gaben 87 Prozent an, dem Staat zu vertrauen, unter denjenigen mit Diskriminierungserfahrung durch die Polizei waren es nur noch 19 Prozent.
Schlussendlich machen die hier vorgestellten Ergebnisse deutlich, dass es im Kontakt zwischen Polizei und Bürger mit Migrationshintergrund um mehr geht als um die Frage, ob (einzelne?) Polizeibeamte rassistisch agieren. Es geht auch und vor allem darum, dass diese Interaktionen weit über den konkreten Einzelfall hinaus Wellen schlagen und Vertrauen in die Polizei und unseren Staat zerstören. Auch wenn es nur Stein ist, der ins Wasser geworfen wird: Die Wellen, die er verursacht, sind erheblich. Jeder Mensch lebt in einem mehr oder weniger großen sozialen Umfeld, in das diese Erfahrungen transportiert werden. Dieses Umfeld ist bei Menschen mit Migrationshintergrund meist deutlich größer als bei „eingeborenen Deutschen“, die zunehmend in Kleinstfamilien oder alleine leben. Entsprechend sind die Wellen, die durch unfaire, ungerechte oder gar rechtswidrige polizeiliche Handlungen ausgelöst werden, wesentlich stärker und breiter – und dazu genügt es, dass sie als solche wahrgenommen werden.
Vor allem der Polizeikontakt zu und mit Jugendlichen spielt in diesem Kontext eine wichtige Rolle. Die Autoren einer deutsch-französische Studie hatten gezeigt, dass die Polizeipraktiken in den beiden Ländern sehr unterschiedlich sind und darauf hingewiesen, dass weitere Forschungen in diesem Bereich notwendig sind.
Möglicherweise realisiert die Polizei (noch) nicht, dass sie sich so mittel- bis langfristig die Basis gegenseitigen Vertrauens zerstört, die abstrakt betrachtet Grundlage unseres demokratischen Gemeinwesens ist und konkret besehen Auswirkungen auf die präventive und repressive Funktion der Polizei hat. Die Aufklärung von Straftaten setzt eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Bürgern voraus. Wer diese bewusst oder unbewusst untergräbt, setzt die auch die Funktion der Polizei bei der Aufklärung von Straftaten aufs Spiel.
Zudem hat die internationale Polizeiforschung (gezeigt, dass polizeiliche Legitimität Auswirkungen auf gesetzesbezogenes Verhalten hat, und dass umgekehrt die Gerechtigkeit der Verfahren, durch die Autorität geschaffen und umgesetzt wird, die Legitimität beeinflusst. Die auf Legitimität basierende rechtliche Autorität ein wichtiger Forschungsbereich in der Polizeiwissenschaft und Kriminologie. Entsprechend wurden mit Gary LaFree und Tom R. Tyler 2024 zwei Kriminologen mit dem Stockholm Preis für Kriminologie gewürdigt, die sich mit eben diesem Thema der „democratic legitimacy and procedural justice in policing democracies“ beschäftigt haben. Die Forschungsergebnisse zeigen, dass Menschen sich gesetzestreuer verhalten, wenn sie erleben, dass Polizei und Justiz sich legitim verhalten, die Abläufe fair sind und Menschen gleich behandelt werden. Polizei und Justiz können dadurch nicht nur ihre Akzeptanz, sondern die Einhaltung ihrer Anweisungen und Entscheidungen verbessern. Ein solches Vorgehen minimiert den Widerstand und die Feindseligkeit, die häufig durch Zwang und Autorität alleine hervorgerufen werden. Das auf Legitimität basierende Modell von Polizeiarbeit hat, so Tyler, außerdem den Vorteil, dass es die Menschen in der Gemeinschaft besser zur Zusammenarbeit ermutigt, was die Identifizierung und Verfolgung von Straftätern erleichtert. Schließlich unterstützt es die langfristige Entwicklung, indem es das soziale, wirtschaftliche und politische Engagement der Einwohner in ihren Gemeinden fördert.
Und letztlich: Ungeachtet der Frage, ob die Polizei insgesamt ein strukturelles Rassismus- und Diskriminierungsproblem hat: Die Handlung jedes einzelnen Polizeibeamten hat (Aus-)Wirkungen auf den oder die davon Betroffenen. Sich dessen bewusst zu sein, ist auch und besonders angesichts des unzweifelhaft herausfordernden Alltags vor allem im Schicht- und Streifendienst der Polizei immer wieder notwendig.
Dabei ist es auch sinnvoll, sich mit den sog. „Selbstschemata“ (also persönliche Theorien über die Autorität der Polizei) zu beschäftigen, wie dies eine aktuelle Studie der Universität Bielefeld tut (s. dazu den Hinweis im PNL Mai 2025). Besonders das Verständnis der eigenen individuellen und der institutionellen Autorität spielt, wie wir wissen, bei polizeilichen Interaktionen eine große Rolle.
Ebenso ist es Aufgabe der unmittelbaren Dienstvorgesetzten, durch beständige Kommunikation mit den Mitarbeitenden, aber auch durch Kontrollen und die Ausarbeitung von signifikanten Ereignissen dafür Sorge zu tragen, dass die Tatsache ständig bewusst ist, dass Polizeibeamte nicht nur das Gewaltmonopol repräsentieren, sondern den Staat insgesamt.
Thomas Feltes, 24.04.2025
Der Kern einer Fehlerkultur in der Polizei: Schutz und Unterstützung von Whistleblowern
Der Kern einer Fehlerkultur in der Polizei: Schutz und Unterstützung von Whistleblowern
Fehlerkultur in der Polizei
Polizeiarbeit ist komplex und anspruchsvoll. Schon aus diesen Gründen ist sie auch fehlergeneigt. Zudem ist polizeiliches Handeln immer Interaktion mit Menschen und daher per se konfliktträchtig.
Trotz dieser Erkenntnis und der eigentlich vorhandenen Einsicht, dass dort, wo Menschen arbeiten auch Fehler gemacht werden, tut die Polizei sich schwer im Umgang mit Fehlern. Es mangelt in der Institution an einer positiven Fehlerkultur, die nicht nur darin besteht, Fehler zu erkennen und sie einzugestehen, sondern diese auch als Ansatzpunkt für positive Veränderungen sowohl auf der individuellen, persönlichen, als auch der strukturellen und institutionellen Ebene zu nutzen.
Ein Großteil der polizeilichen Tätigkeit findet sichtbar im öffentlichen Raum statt und ist von unterschiedlicher, teilweise nur in Ansätzen beeinflussbarer Dynamik betroffen (Seidensticker 2019). „Das Verhältnis der Organisation Polizei zu dem Auftreten von Fehlern mag in diesem Kontext verwundern, ist aber zumeist organisationsintern klar: Fehler passieren nicht! Dass diese Einstellung nicht dazu beitragen kann, den Wert und die Möglichkeiten einer gewinnbringenden Nutzung von Fehlern, das Verhüten von oder aber ein systematisches Lernen aus Fehler n zu erkennen, wird dabei schnell deutlich“ (Seidensticker aaO.).
Woher kommt diese Tendenz des in weiten Teilen negativen Umgangs mit Fehlern in der Polizei, der durch das Beziehungsverhältnis von Struktur und Handlung geprägt ist und in dessen Zentrum der handelnde Beamte und sein berufliches Umfeld stehen?
Legalitätsprinzip und Fehler
Neben gruppeninternen und subkulturellen Ursachen für eine mangende Fehlerkultur (Stichwort: blue code of silence) spielen auch das Legalitätsprinzip und die Strafvorschrift der Strafvereitelung im Amt eine Rolle. Das Legalitätsprinzip verpflichtet Polizeibeamte, bei Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte für eine (auch von Kollegen) begangene Straftat diese anzuzeigen bzw. zu verfolgen. Geschieht dies nicht, kann sich der betreffende Beamte wegen Strafvereitelung im Amt strafbar machen. Vor dem Hintergrund der polizeilichen Organisations- bzw. Subkultur kann diese Rechtspflicht zu einem massiven Konflikt führen. Wird der Vorfall entsprechend angezeigt, fällt der Beamte negativ durch einen Verstoß gegen den „blue code of silence“ auf.
Die direkten oder indirekten Konsequenzen im Handlungsalltag können beträchtlich sein und bis hin zu Ausgrenzung aus der Gruppe führen. Viele Fallkonstellationen (s. Ruch/Feltes 2025) verdeutlichen, dass das Legalitätsprinzip auch hier unerwünschte Konsequenzen hat. So machen sich Beamte, die sogenannte Widerstandsbeamten in ihren Reihen haben und dies wissen, aber nicht melden, möglicherweise nicht nur der Strafvereitelung im Amt, sondern auch der Beihilfe zur Körperverletzung strafbar.
Im Sinne einer positiven Fehlerkultur in der Polizei sollten solche Vorfälle oder Beobachtungen aber in Ruhe reflektiert werden können, z. B. indem man sich bei Vorgesetzten oder Kollegen rückversichert und um Unterstützung bittet. Auch niedrigschwellige Meldesysteme innerhalb der Polizei könnten für Abhilfe sorgen.
Will man den Weg hin zu einer konstruktiven, polizeilichen Fehlerkultur weiter ausbauen, dann müssen nicht nur entsprechende Hinweisgebersysteme funktionieren, sondern es muss auch sichergestellt sein, dass deren Nutzung das Legalitätsprinzip in diesen Fällen durchbricht. Ansonsten ist zu befürchten, dass es angesichts der weiten Auslegung des Tatbestands der Strafvereitelung für Polizeibeamte nur ratsam sein kann, erlebtes Fehlverhalten nicht zur Anzeige zu bringen, anstatt sich dem strafrechtlichen Vorwurf auszusetzen, verspätet Mitteilung gemacht und damit gegen § 258a StGB verstoßen zu haben.
„Auf dem Weg zu einer positiven Fehlerkultur scheinen Sanktionsandrohungen somit nicht in jedem Fall der geeignete Weg zu sein, da sie im Extremfall dafür sorgen können, dass Reflexionsräume verschlossen werden und auf diese Weise eine klandestine Fehlerkultur gefördert wird“ (Ruch/Feltes 2025).
Hinweisgeber oder „Whistleblower“
Ein funktionierendes Whistleblowing-System innerhalb der Polizei ist ein selbstregulatorisches Instrument, mit dem auf Missstände reagiert werden kann. Die Einführung des Hinweisgeberschutzgesetzes (HinSchG, genauer „Gesetz für einen besseren Schutz von Hinweisgebern“) sollte hierzu den rechtlichen Rahmen schaffen. Das Gesetz schützt nach § 1 „Personen, die im Zusammenhang mit ihrer beruflichen Tätigkeit oder im Vorfeld einer beruflichen Tätigkeit Informationen über Verstöße erlangt haben und diese an die nach diesem Gesetz vorgesehenen Meldestellen melden oder offenlegen“.
Darüber hinaus werden aber auch die Personen geschützt, die Gegenstand einer Meldung oder Offenlegung sind, sowie sonstige Personen, die von einer Meldung oder Offenlegung betroffen sind. Nach § 12 des Gesetzes haben Beschäftigungsgeber „dafür zu sorgen, dass bei ihnen mindestens eine Stelle für interne Meldungen eingerichtet ist und betrieben wird, an die sich Beschäftigte wenden können (interne Meldestelle)“. Zusätzlich muss der Bund eine Stelle für externe Meldungen einrichten (§ 19, externe Meldestelle des Bundes).
Es ist offensichtlich, dass Menschen, die auf Fehlverhalten in Behörden und der Privatwirtschaft hinweisen, wirksam vor Repressalien durch die betroffenen Institutionen geschützt werden; ansonsten wird sich kaum jemand bereitfinden, Fehlverhalten, Straftaten oder Missstände anzuzeigen. In Bezug auf die Polizei existierten bereits vor der Einführung des Gesetzes verschiedene Ansprech- und Beschwerdestellen[1]. Mit dem HinSchG wurden zusätzliche neue Meldestellen geschaffen, um den Schutz von Hinweisgeber weiter zu stärken.
Die Frage ist, ob dieses „mehr“ an Meldestellen tatsächlich das Problem löst, oder ob es nicht andere Ursachen dafür gibt, dass Hinweise innerhalb der Institution Polizei auf Fehlverhalten nach wie vor die absolute Ausnahme sind.
Die Studie
Die Gesellschaft für Freiheitsrechte hat im März 2025 eine Studie veröffentlicht, die von Daniela Hunold von der HWR in Berlin durchgeführt wurde. Auf der Basis von Interviews in zwei Landespolizeien hat sie untersucht, vor welchen Herausforderungen und Problemen sowohl die Meldestellen als auch (potenziell) hinweisgebende Polizisten stehen.
Die Studie basiert auf 19 qualitativen Interviews, die in Berlin und Schleswig-Holstein durchgeführt wurden, um regionale Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu erfassen. Die Stichprobe setzt sich aus zwei Gruppen zusammen: Neun Experten aus Melde- und Ansprechstellen und zwölf Angehörige der Polizeien, die nicht primär für Aufgaben im Kontext der Untersuchungsthematik abgestellt sind. Dabei wurden sowohl Polizeivollzugsbeamte als auch Tarifbeschäftigte der Polizeien befragt. Die Interviews wurden als leitfadengestützte Gespräche geführt.
Ergebnisse
Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass strukturelle und kulturelle Faktoren innerhalb der Institution weiterhin die Hinweisgabe erschweren.
In Schleswig-Holstein wurde nicht nur die mangelnde Sichtbarkeit der im Innenministerium eingerichteten Meldestelle kritisierten, sondern auch Bedenken hinsichtlich der sozialen und formalen Distanz durch die hierarchische Einbindung der Stelle geäußert. Es wurde befürchtet, dass eine zu starke institutionelle Nähe zur Polizei besteht. Gleichzeitig wisse man nicht, dass die zuständigen Vollzugsmitarbeitenden vom Legalitätsprinzip entbunden sind.
Aus diesen Gründen ist – so die klare Aussage von Hunold - die Einrichtung von Meldestellen nach dem HinSchG in den Innenministerien nicht zu empfehlen. Eine zugängliche Alternative erschien den Interviewten die Meldestelle des Vertrauensanwalts des Landes Berlin, insbesondere aufgrund seiner wahr-genommenen Unabhängigkeit von der Behörde (obwohl sie formal eine interne Meldestelle darstellt). „Allerdings basiert auch dieses Modell auf bereits vorhandenen Strukturen, so dass fraglich bleibt, inwiefern die neuen Zuständigkeiten adäquat berücksichtigt werden (können)“ (S. 50). Zudem liegt der Fokus dieser Stelle bei der Korruption.
Grundsätzlich können Meldestrukturen innerhalb der Polizeiorganisation die Hemmschwelle zur Nutzung senken, dazu müssen sie aber organisatorisch unabhängig sein und nicht der Polizeiführung unterstehen. Zudem müssen Meldeprozesse in jedem Stadium unabhängig von den üblichen formalen Dienstwegen bleiben.
Ein weiteres zentrales Anliegen der in der Studie interviewten Beschäftigen war die Sicherstellung anonymer Meldungen, insbesondere durch die Entbindung vom Legalitätsprinzip (s. dazu oben).
Angesichts dieser Herausforderungen sei es, so Hunold, dringend geboten, die Umsetzung der Meldestrukturen nach dem HinSchG wissenschaftlich zu begleiten und zu evaluieren. Die vorliegende Studie zeige, dass die bisherigen Maßnahmen erstens weitgehend unbekannt seien und daher kaum Wirkung entfalten.
Zweitens bleibe unklar, welche konkreten Effekte die neuen Strukturen für potenzielle Hinweisgeber haben. Vor diesem Hintergrund sollte das HinSchG an die spezifischen Bedarfe der Polizei angepasst werden, um eine effektive Umsetzung zu gewährleisten. Zuständigkeiten, Funktionen und Prozesse müssten eindeutig geklärt und durch ein gezieltes Kommunikationskonzept transparent an die Belegschaft vermittelt werden.
Hunold kommt zu dem Ergebnis, dass das größte Problem bei der Umsetzung des HinSchG in der Polizei der Mangel an Wissen über das Gesetz und die damit verbundenen Meldemöglichkeiten ist. Vielen Beamten seien die Regelungen und Schutzmechanismen des Gesetzes kaum bekannt.
Um die Bekanntheit und Akzeptanz des HinSchG in Polizeibehörden zu erhöhen, schlägt Hunold vor, dass gezielte Maßnahmen auf verschiedenen Ebenen ergriffen werden, die sowohl Führungskräfte als auch Beamte in allen Laufbahnen erreichen. Dazu bedürfe es einer klaren Kommunikationsstrategie, die sicherstellt, dass alle Mitarbeitenden Zugang zu relevanten Informationen über die Meldesysteme erhalten, ohne dass sie selbst aktiv danach suchen müssen. Ebenso sollten die entsprechenden Meldewege in Mitarbeiterinformationen und Dienstvereinbarungen fest verankert sein.
Entscheidend sei, dass Vorgesetzte aller Hierarchieebenen aktiv in die Entwicklung und Umsetzung dieser Kommunikationsstrategien eingebunden werden. Dies würde, so Hunold, nicht nur die Akzeptanz steigern, sondern auch sicherstellen, dass das Wissen über das HinSchG an die Mitarbeitenden weitergegeben wird.
Letztlich dürften solche Kommunikationsstrategien aber nicht ausreichen. Notwendig ist eine gelebte Führungskultur, in der die Meldung von Fehlverhalten als positiv und nicht als negativ gesehen wird. Vorgesetzte müssen Beamten, die mögliches Fehlverhalten beobachten können, durch klare Ansagen und nonverbale Signale verdeutlichen, dass sie immer und jederzeit ihre Unterstützung haben und dass solche Meldungen für die interne Polizeikultur hilfreich und nicht schädlich sind. Daran mangelt es aber zu oft, denn die Tendenz, Fehler, die gemacht wurden, zu vertuschen, ist keine Strategie, die einzelne Polizeibeamte für sich entwickelt haben, sondern sie ist von Vorgesetzten bis hin zum Innenministerium quasi vorgegeben und somit in der DNA von Polizeibeamten verankert. In einem früheren Beitrag zusammen mit Maurice Punch habe ich darauf verwiesen, dass ich in meiner Zeit als Rektor einer Polizeihochschule (1992 bis 2002) viel über die Polizei, über „innere Führung“ und die Erwartungen, die die Politik an die Polizei hat, gelernt habe.
Die Polizei „muss funktionieren, und das möglichst unauffällig und reibungslos. Umgekehrt erwartet die Polizei entsprechende Rückendeckung: Probleme und Fehler gibt es nicht, weil es sie nicht geben darf; und wenn doch, dann müssen sie möglichst unter der Decke bleiben. Die schon panische Angst der Führung vor öffentlichen oder internen Diskussionen, vor Widerspruch und Fehlern führt im Ergebnis zu einer Paralysierung dieser Institution und ihrer Mitarbeiter. … Die panische Angst vor der öffentlichen Diskussion von Problemen führte soweit, dass Polizeiführer, die sich „erdreisteten“, der „herrschenden Meinung“ zu widersprechen, öffentlich abgestraft oder diszipliniert wurden. Machten sie hingegen handwerkliche Fehler, waren ansonsten aber (auch politisch) angepasst und willfährig, war man im Gegenzug bereit, diese Fehler zu vertuschen oder zu kaschieren. Die tief verwurzelte Einstellung, dass ein Polizeibeamter, der es zu etwas bringen will, primär zu funktionieren habe und am besten überhaupt keine eigene Persönlichkeit haben sollte (weil diese Ecken und Kanten haben und so Probleme machen könnte), produzierte nicht nur skurrile, sondern auch gefährliche Situationen: So wurde der Vorschlag, eine psychologische Beratungsstelle an der Hochschule einzurichten mit dem Hinweis abgelehnt, Polizeibeamte kämen mit „solchen“ Problemen selbst klar. Dass dies nicht der Fall ist, weiß jeder, der sich einmal mit der Prävalenz von Alkoholproblemen, Beziehungskrisen, Selbstmorden und psychischen oder psychisch bedingten Krankheiten in der Polizei beschäftigt hat“.
Kritik der Studie und Resümee
Sicherlich kann man gegen die Studie einwenden, dass die Anzahl der Interviewpersonen zu niedrig gewesen ist und dass andere Methoden (z.B. Fallanalysen) hilfreicher vielleicht gewesen wären. Aber letztlich ist diese Studie deshalb wichtig, weil sie die Diskussion um das Hinweisgebersystem in der Polizei beleben kann – was unbedingt notwendig ist, wie zu Beginn gezeigt.
Solange Whistleblower Stigmatisierung und soziale Sanktionen fürchten müssen, bleibt das Risiko hoch, dass Missstände nicht gemeldet und notwendige Veränderungen blockiert werden. Der Weg zu einer Kultur, in der das Melden von Fehlverhalten als legitimer und geschützter Bestandteil professionellen Handelns betrachtet wird, ist noch weit und hängt maßgeblich vom Verhalten von Führungskräften ab.
Denn selbst das optimalste Hinweisgebersystem kann nicht funktionieren, wenn die betroffenen Polizeibeamten das Gefühl haben, dass sie gegen ihre Vorgesetzten und gegen die lokale Polizistenkultur agieren. Schon aus individuellen, sowie psycho- und sozialhygienischen Gründen[2] werden sich ansonsten Polizeibeamte, die Fehlverhalten beobachten gegen eine Anzeige oder Meldung entscheiden.
Thomas Feltes 24.03.2025
[1] Eine Übersicht über Beschwerdemechanismen in Europa liefern Töpfer und Peter 2017.
[2] Psychohygiene ist die Lehre vom Schutz und dem Erlangen der psychischen Gesundheit. Zur Psychohygiene zählen alle Maßnahmen, die dem Schutz und dem Erhalt der psychischen Gesundheit dienen. Dazu gehören Lebensgewohnheiten und Verhaltensweisen, die Personen unterstützen mit Belastungen (z.B. Stress) umzugehen, sowie tägliche „Pflegemaßnahmen“ für die Seele.
Sozialhygiene befasst sich mit dem Einfluss von Gesellschaft und Arbeit auf die Gesundheit des Einzelnen. So werden z. B. die psychischen und körperlichen Auswirkungen von Stress am Arbeitsplatz untersucht.
Polizeiwerte. Wie beeinflussen Ausbildung, Studium und Praxiserfahrung die Einstellungen und Werte von Polizeibeamten?
Thema
Die Frage, ob und wie Ausbildung und Studium nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch Persönlichkeiten verändern, ist für jeden Arbeitsbereich relevant – ganz besonders aber für Berufe, deren Vertreter den Rechtsstaat repräsentieren und/oder die Beziehung zwischen Bürger und Staat prägen und beeinflussen. Dies trifft neben Juristen vor allem für Polizeibeamte zu. Seit geraumer Zeit beschäftigt sich die Polizei auch selbst verstärkt mit dieser Thematik. In diesem Beitrag werden zwei empirische Studien aus dem Polizeibereich zur Werteorientierung vorgestellt und kritisch gewürdigt.
- Die Studie an der Hochschule für Polizei Baden-Württemberg
Im Herbst 2021 hatte ein interdisziplinäres Forschungsteam der Hochschule für Polizei Baden-Württemberg damit begonnen, die Entwicklung von Berufsmotivation und Werteorientierung im Verlauf der Ausbildung und des Studiums zu untersuchen. Dabei geht es darum, „die Entwicklung bzw. Veränderung von Wertorientierungen, (arbeitsbezogenen) Einstellungen und Berufsmotivation sowie den dahinterliegenden Einflussfaktoren in einem größeren Rahmen nachzuzeichnen und zu verstehen. Dies umfasst auch die Analyse von diskriminierenden und rassistischen Haltungen und Verhaltensweisen“[1].
Ergebnisse zur Berufswahl und zu eigenen Werten und Einstellungen
Die Befunde zeigen, dass die Berufswahl aus explizitem „Interesse an der Tätigkeit und prosozialen Motivationen“ heraus erfolgt. Die Befragten fühlen sich der Institution „sehr zugehörig“, haben ein „überwiegend positives berufliches Selbstbild, nehmen eine ausgeprägte soziale Unterstützung im Kreis der Kolleginnen und Kollegen wahr und befürworten eine bürgerorientierte Polizeiarbeit, welche auch eine Berücksichtigung der Bedürfnisse und Erwartungen des Gegenübers in der Zusammenarbeit betont“. Ein auf Gehorsam und Machtdurchsetzung fokussiertes, autoritäres Polizeiverständnis sei „deutlich seltener vertreten“. Auch nach den ersten Praxiserfahrungen würde sich die überwiegende Mehrheit noch einmal für den Polizeiberuf entscheiden.
Diese eher vorsichtigen Formulierungen machen deutlich, dass es durchaus einen Teilbereich der Auszubildenden bzw. Studierenden[2] gibt, der ein autoritäres Polizeiverständnis hat und eine Gruppe, die sich nach den Praxiserfahrungen nicht mehr für den Beruf entscheiden würden. Diese beiden Gruppen sollten – aus unterschiedlichen Gründen – näher betrachtet werden. Bei denjenigen mit „autoritärem Polizeiverständnis“ wäre es wichtig zu wissen, woher dieses Verständnis kommt, d.h. konkret ob es Faktoren gibt, die bereits bei Beginn des Studiums vorhanden sind und die als relevant angesehen werden können. Bei denjenigen, die den Beruf nicht mehr wählen würden wäre es wichtig herauszufinden, welche (falschen) Vorstellungen sie vom Polizeiberuf gehabt haben und wie dem (z.B. bei Werbemaßnahmen für die Polizei) entgegnet werden kann.
Die Forschenden haben auch festgestellt, dass sich die Studierenden selbst im Vergleich zur Gesamtbevölkerung als widerstandsfähiger gegenüber herausfordernden Situationen einschätzen, über eine hohe Lebenszufriedenheit berichten und in ihrem privaten Umfeld auf mehr soziale Unterstützung zurückgreifen können. Dabei wird dieser Vergleich mit der Gesamtbevölkerung an nicht anhand anderer, externer Studien hergestellt, sondern indirekt als Fremdbild ermittelt: „Zur Erfassung der wahrgenommenen Verbreitung diskriminierender Einstellungen und Verhaltensweisen wurden die Befragten gebeten einzuschätzen, wie viel % (0-100 %) der Bevölkerung und der Polizei über diskriminierende Einstellungen verfügt und wie viel % dieser Gruppen diskriminierende Äußerungen bzw. Verhaltensweisen aufzeigen“.
Diese Vorgehensweise ist problematisch: Die Polizeistudierenden bilden keinen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung ab (schon alleine wegen der Unterrepräsentation von Menschen mit Migrationshintergrund oder aus sozial schwachen Schichten) und ihre Einschätzung der Einstellungen der Bevölkerung sind daher nicht repräsentativ. So wird lediglich das bereits vorurteilsbehaftete und durch die eigene Sozialisation der befragten Polizeibeamten geprägt Bild von „der Bevölkerung“ abgefragt. Diese Problematik hätte in der Studie intensiver thematisiert werden müssen. Letztlich haben wir es hier mit einer Selbst- vs. Fremdbild-Befragung zu tun, die als solche kenntlich zu machen wäre.
Werteorientierung
Allgemeine Wertorientierungen wurden – so die Forschenden – analog zur Shell-Studie und damit einer externen Vergleichsstudie erhoben. Dabei zeige sich, „dass die Auszubildenden und Studierenden der vorliegenden Studie ähnliche Ausprägungen wie die Teilnehmenden der Shell-Studie aufweisen … und lediglich leichte Abweichungen im Werteprofil zu verzeichnen sind“.
Konkret wurde der Fragenkatalog der Shell-Studie verwendet, die mit Jugendlichen im Alter von 12 bis 25 Jahren durchgeführt wurde – also einer anderen Altersgruppe. Aus dem Bericht der Forschenden ist nicht ersichtlich, ob man auch einen Vergleich der strukturellen Zusammensetzung der jeweiligen Befragten vorgenommen oder eine Sonderauswertung mit vergleichbaren Daten aus der Shell-Studie in Erwägung gezogen hat. Dies wäre aber notwendig, um tatsächlich vergleichbare Daten zu bekommen.
Im Vergleich zur Shell-Studie wird die Durchsetzung eigener Bedürfnisse von den Polizeistudierenden als weniger wichtig wahrgenommen. Dies spreche für eine tendenziell prosoziale Orientierung. Konformismus („das tun, was die anderen tun“) und Konservatismus („am Althergebrachtem festhalten“) werden von den Studierenden als weniger wichtig angegeben als bei der Shell-Studie. Hier könnte – so die Forschenden - die unterschiedliche Altersstruktur einen Einfluss auf die Ausprägung von Selbstständigkeit und Individualität der befragten Personen haben. Dennoch sei diese Beobachtung „erstaunlich und wenig erwartbar, da die Polizei doch eher mit konservativen Wertvorstellungen in Verbindung gebracht“ werde.
Unterschiede zur Bevölkerung zeigen sich dann bei den drei Wertorientierungen „Gesetz und Ordnung respektieren“, „sozial Benachteiligten und gesellschaftlichen Randgruppen helfen“ und „die Vielfalt der Menschen anerkennen und respektieren“. Für alle drei gelte, dass die Relevanz mit zunehmender Praxiserfahrung abnehme. Dies könnte möglicherweise auf negative Erfahrungen mit Bürgern in der täglichen Berufspraxis zurückzuführen sein. Es könnte aber auch auf die Ausbildung selbst zurückzuführen sein, wie dies bei anderen Berufsgruppen (z.B. Juristen) festgestellt wurde.
Nicht thematisiert wird hier (wie generell in der Studie) der Einfluss von anderen Studierenden (Peers) und vor allem von Vorgesetzten auf die Einstellungen der Studierenden. Der sog. „Praxisschock“ kann eben nicht nur durch negative Erfahrungen mit Bürgern erfolgen, sondern auch dadurch entstehen, dass entsprechende Wertorientierungen von Vorgesetzten (manchmal als „Bärenführer“ bezeichnet) übernommen werden, wobei die Gründe dafür sowohl soziale Erwünschtheit (auch im Hinblick auf die Benotung der Praxistätigkeit) als auch der ausreichend beschriebene subkulturelle Gruppendruck sein können. Solche gruppeninternen wie gruppendynamischen Faktoren lassen sich letztendlich mit einer Befragung nicht oder nur unzureichend abbilden. Hier wäre eine teilnehmende Beobachtung in Einsatz- und formellen wie informellen Gesprächssituationen notwendig und in Ergänzung zum Befragungsdesign hilfreich.
Zudem sollten die Praxisausbilder ebenfalls befragt und deren Werteeinstellungen mit denen der Auszubildenden verglichen werden. Dafür spricht auch die Tatsache, dass sich die Dauer der Praxiszeit auf die politische Orientierung auswirkt: Je mehr Praxis, umso „rechter“. Interessant sind auch Abweichungen von den in der Shell-Studie gemessenen Einstellungen „das Leben in vollen Zügen genießen“ und „einen hohen Lebensstandard haben“. Beides ist für die Polizeiauszubildenden deutlich wichtiger als für die Durchschnittsbevölkerung. Ob und wie sich dies mit den Einschränkungen des Polizeiberufes verbinden lässt, wurde nicht thematisiert, wäre aber für das Thema „Frustration“ im weiteren Verlauf wichtig.
Diskriminierende Einstellungen innerhalb der eigenen Berufsgruppe werden bei ca. 25 % bis 38 % der Kollegen vermutet – hier steigt der %wert mit der Praxiserfahrung. Gleiches gilt auch für diskriminierendes Verhalten. Im Bereich der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (GMF) zeige sich, dass die Befragten zwar hinsichtlich Muslimfeindlichkeit und Fremdenfeindlichkeit vergleichbare Werte wie die Allgemeinbevölkerung (lt. Shell-Studie, also Jugendliche zwischen 12 und 25 Jahren) aufweisen, die Abwertung von Sinti und Roma sowie eine Abwertung von Obdachlosen allerdings unter den Befragten stärker vertreten sei – und mit zunehmender Praxiserfahrung zunimmt.
Insgesamt zeigt sich hier eine wohl realistische Bewertung der Berufskollegen. Erwartbar ist der teilweise deutliche Anstieg der Vermutung diskriminierender Einstellungen bei Kollegen mit zunehmender Praxiserfahrung. Die Tatsache aber, dass etwa bis zu neun von zehn der Befragten davon ausgehen, dass Fehlverhalten (Mobbing, diskriminierendes Verhalten, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz) in der Polizei vorkommt, muss erschrecken. Auch wenn diese nach dem bekannten Muster als „Einzelfälle“ eingestuft werden: Dieses Ergebnis muss Anlass geben, konkreter bei Auszubildenden nachzufragen, welche „Einzelfälle“ dies sind, wenn sie aus den Praxisphasen zurückkommen und ob sich hier nicht doch strukturelle oder persönliche Regelmäßigkeiten (wie z.B. durch sog. „Widerstandsbeamte“) erkennen lassen.
Begründung der Veränderungen während des Studiums und der Ausbildung
Mit steigender Erfahrung nehmen positive Haltungen und Einstellungen gegenüber der eigenen beruflichen Rolle, aber auch gegenüber Bürgerinnen und Bürgern statistisch bedeutsam ab, während sich negative Selbst- und Fremdbewertungen bzw. -zuschreibungen verstärken. Die Forschenden erklären dieses Ergebnis damit, dass es im Rahmen der Berufsausübung zu Veränderungen im Selbst- und Weltbild komme, „was als Praxisschock gedeutet werden könnte“. Gemeint sei damit die Diskrepanz zwischen einer „idealisierten Erwartung an den Beruf verbunden mit der eigenen Handlungswirksamkeit und den dann tatsächlich gemachten inner- wie außerorganisationalen Berufserfahrungen“.
Zudem könnten konfliktgeladene oder unbefriedigende Interaktionen mit Bürgern, externen Institutionen (z. B. Gerichten) sowie innerhalb der Polizei – so die Forschenden - zu einem „erhöhten Frustrationserleben“ zu führen, „ein Gefühl mangelnder Anerkennung und Wertschätzung zu befördern und das eigene Selbstwirksamkeitserleben negativ zu beeinflussen“.
Diese zunehmende Frustration, gepaart mit dem Praxisschock, ist weder neu noch überraschend. Die Polizei selbst trägt zu teilweise überhöhten Erwartungen an den Beruf des Polizisten z.B. in ihrer Werbung bei. Zudem tut sie in der Ausbildung zu wenig, die Resilienz der Auszubildenden zu stärken, indem diese nicht ausreichend auf das „wirkliche Leben“ auf der Straße vorbereitet werden. Wenn der NRW-Innenminister Reul dann auch noch darauf hinweist, dass junge Polizisten zunehmend aus gesellschaftlichen Schichten kämen, in denen sie über keine eigene Gewalterfahrung verfügen und daher „robuster“ werden müssten, dann wird dabei zwar das Grundproblem erkannt, nur die Lösung ist mehr als fragwürdig – was auch die Tatsache zeigt, dass in den Medien dies mit „Harte Kante, weniger polizeilicher Kuschelrock“ (Fokus) kommentiert wurde. Wer fordert, dass die Polizei „gewaltfähiger” werden muss und dies u.a. mit der (sozialen) Herkunft der (jüngeren) Polizeibeamten begründet, der verstärkt diesen (negativen) Praxiseffekt noch und erhöht die Gefahr, dass Polizeibeamte noch häufiger frustriert sind, resignieren oder zu Zynikern werden.
Die hohen Anteile an psychischen Erkrankungen, an Alkohol-, Drogen- und Beziehungsproblemen sowie Suiziden (lt. einer Studie der Ev. Kirche in Deutschland ist hier die Rate dreimal so hoch wie in der Bevölkerung) in der Polizei machen ebenso wie die zahlreichen „inneren Kündigungen“ deutlich, dass der Beruf besonders fordernd und anspruchsvoll ist und angesichts einer immer komplexer werdenden Gesellschaft noch anspruchsvoller wird. Dabei sind es weniger die polizeilichen Alltagsprobleme, die solche Auswirkungen haben, als der falsche Umgang mit diesen Belastungen, die fehlende Empathie der Vorgesetzten, das mangelhafte Angebot an Supervision und Coaching und vor allem der noch immer vermittelte Eindruck, nur ein starker Polizist sei ein guter Polizist.
Ein ‚Health-Oriented Leadership‘-Ansatz, wie er in Niedersachsen entwickelt wird (Pracht), könnte hier Abhilfe schaffen. André Schulz und ich haben die Problematik in einem aktuellen Beitrag zum Compliance-Management für die Polizei beschrieben und den Zusammenhang von Führungsversagen und mangelnder Fehlerkultur als institutioneller Risikofaktor benannt. Einen „Praxisschock“ als Erklärung für solche Werte- und Einstellungsveränderungen, wie sie in der vorlegenden Studie beschrieben werden, zu bemühen, greift zu kurz. Es muss Aufgabe der Ausbildungseinrichtung sein, dem entgegenzuwirken.
Wenn sich – so die Forschenden - auch die politische Orientierung mit zunehmender Praxiserfahrung ins Konservative verändere und das zwischenmenschliche Vertrauen sinke und die Ablehnungswerte gegenüber marginalisierten Gruppen mit zunehmender Praxiserfahrung ansteigen, dann kann man als möglichen Grund für diese Veränderungen eine Abstumpfung benennen, welche im Laufe der Berufserfahrung durch wiederkehrende Ereignisse mit bestimmten Gruppen stattfinde. Eine „Abstumpfung sowie eine Zunahme an Zynismus durch die polizeiliche Tätigkeit andererseits“ kann und darf aber nicht ohne Reaktion von Seiten der Ausbildungseinrichtung und vor allem des Dienstherrn (Innenministerium) bleiben. Wenn lokale Medien fragen, wie zynisch man bei der Polizei wird, dann genügt es nicht, wenn einer der Forschenden im Interview mit der „Schwäbischen“ sagt, dass das, was Beamte auf der Straße erleben, das eigene, möglicherweise idealisiertes Bild verändert. Es ist nun mal bekannt, dass die Polizei überproportional mit negativen Erfahrungen zu tun hat, die immer mehr zunehmen. Und genau darauf muss die Ausbildung vorbereiten.
Zur Methodik
Generell sind Längsschnittvergleiche ein sehr gutes Instrument, um Veränderungen z.B. bei Einstellungen und Werten zu messen. Allerdings gilt hier wie generell bei der Analyse von empirischen Ergebnissen der Vorbehalt, dass man eigentlich nie sog. „Störvariablen“ wirklich ausschalten kann, d.h. Faktoren, die neben oder sogar über die untersuchten Variablen (hier vor allem die Effekte der Ausbildung) hinaus sich auf die Ergebnisse auswirken. Während man bspw. eine generelle Verstärkung konservativer oder punitiver Einstellungen in der Bevölkerung im Laufe der Zeit berücksichtigen kann, gilt dies nicht für bestimmte gruppenbezogene Faktoren wie bspw. politische Konstellationen oder auch sich mit Sicherheit stark auswirkende individuelle Veränderungen (Heirat, Scheidung, Krankheit u.a.m.). Dies zu berücksichtigen ist methodisch aufwändig und anspruchsvoll und es bleibt abzuwarten, ob dies den Forschenden gelingen kann.
Die methodische und strukturelle Problematik von Längsschnittvergleichen besteht zum anderen darin, vergleichbare Gruppen zu finden bzw. im Idealfall die gleichen Personen zu befragen, die in der vorgehenden Befragung teilgenommen haben. Dies ist aus Datenschutzgründen in der Allgemeinbevölkerung inzwischen nur noch mit erheblichem Aufwand möglich. So hatten beispielsweise die Tübinger Kollegen in ihrer Längsschnittstudie zu kriminellen Karrieren (Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung) den Teilnehmenden jeweils an Weihnachten eine Karte geschickt – vor allem, um zu überprüfen, ob die Meldeadresse noch stimmt. Im vorliegenden Projekt haben die Forschenden dies so gelöst, dass zu zehn geplanten Befragungszeitpunkten jeweils drei bis sechs Ausbildungs- bzw. Studienjahrgänge befragt werden. Ziel sei eine Vollerhebung aller zum Zeitpunkt der Befragung an der Hochschule für Polizei Baden-Württemberg befindlichen Auszubildenden und Studierenden bestimmter Jahrgänge. Alle Personen erhielten einen personalisierten Einladungslink, um an der Befragung teilzunehmen. Des Weiteren sollten die Befragten einen personalisierten Code erstellen, welcher es für zukünftige Auswertungen möglich machen wird, die Datensätze miteinander zu verbinden.
Insgesamt muss man dieses Forschungsprojekt an der Hochschule für Polizei Baden-Württemberg durchaus positiv bewerten, und zwar nicht nur, dass es überhaupt durchgeführt wird oder werden kann (vergleichbare Studien waren bis vor kurzem immer wieder von Innenministerien abgelehnt worden, z.T. mit hanebüchenen Begründungen, meist aber ganz offensichtlich, weil man Angst vor den Ergebnissen hatte). Auch der methodische Ansatz und Aufwand ist hervorzuheben, der deutlich macht, dass sich die Polizeihochschule, die ursprünglich (d.h. konkret bis 1992) als reine „Schule“ gesehen wurde, weiterentwickelt hat. Während damals (1995) Wissenschaft verteufelt wurde und gar in den Kontext von „Scharlatanerie“ gestellt wurde, sieht es heute anders aus. Es bleibt zu hoffen, dass auch die entsprechenden personellen und finanziellen Ressourcen, um solche oder vergleichbare Forschungen durchzuführen, zur Verfügung gestellt werden.
Die bereits angesprochenen zusätzlichen Fragestellungen und Konsequenzen für die Ausbildung (auch in der Praxis) müssen allerdings konsequent umgesetzt werden, damit Studien wie diese sich aus positiv und konstruktiv auf die Polizei auswirken können. Die im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der vorliegenden Ergebnisse von Polizeigewerkschaftern aufgestellten Forderungen nach mehr Supervision, Fortbildungen und Resilienzschulungen gerade für junge Beamte nehmen nur das auf, was Polizeiwissenschaftler wie Rafael Behr und ich seit vielen Jahren fordern. Die Einstellung „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“, die frühere Führungsgenerationen prägte (vgl. Feltes/Punch), muss überwunden, geeignete Unterstützungsangebote müssen systematisch bereits in der Ausbildung greifen.
Zumindest vereinzelt scheinen sich negative Sichtweisen weniger aus eigenen Erfahrungen heraus zu speisen, sondern vielmehr einem allgemeinen Diskurs zu folgen, wie dies bspw. an der wahrgenommenen gesellschaftlichen Verrohungstendenz erkennbar ist. Wenn diskriminierende Haltungen und Einstellungen gegenüber dem Bürger bzw. unkorrekte Verhaltensweisen innerhalb der Polizei als existent wahrgenommen werden, muss darauf reagiert werden, und zwar konstruktiv, nicht negativ-sanktionierend. Gleiches kann für die Gründe für Schweigen gelten, insofern die Befunde nahelegen, dass vor allem die Sorge vor Repressalien innerhalb des kollegialen Umfelds einer guten Fehlerkultur im Wege stehen könnten.
Das zentrale Untersuchungsinteresse des Projekts besteht in der Frage, wie sich Motivationen und Einstellungen von Auszubildenden und Studierenden im Verlauf entwickeln. Wenn schon jetzt sich als wesentliches Ergebnis abzeichnet, dass mit steigender Erfahrung positive Haltungen und Einstellungen wie prosoziale Orientierung, Vertrauen, oder das Gefühl sozialer Anerkennung und erlebter Wertschätzung für die geleistete Arbeit statistisch bedeutsam abnehmen und umgekehrt negative Bewertungen von bestimmten Personengruppen, bspw. Stereotypen bezogen auf marginalisierte Gruppen zunehmen, dann…
Bemerkenswert ist – so die Forschenden -, dass die mit dem Eintritt in die Polizei verknüpften Vorstellungen des Berufsalltags bereits durch erste Praxiserfahrungen erheblich irritiert und frustriert werden.
Was (leider) nicht untersucht wird/wurde
Die Forschenden betonen selbst, dass ihre Studie nicht den Studienerfolg sowie die (soziale) Zusammensetzung der Studierenden thematisieren konnte (oder wollte?). In einer früheren Studie konnten wir für Bochumer Studierende nachweisen, dass folgende Faktoren den Studienerfolg beeinflussen: Die Abiturnote, die soziale Herkunft und der finanzielle Spielraum während des Studiums. Ähnliche Ergebnisse sind aus der Bildungsforschung bekannt, und es wäre interessant zu erfahren, ob und ggf. welche Ergebnisse bei Polizeistudierenden vorliegen würden, vor allem vor dem Hintergrund der inzwischen doch mit 25% oder mehr relativ hohen Abbruch- und Nichtbestehens des Studiums.
Zudem sind auch Zusammenhänge zwischen der sozialen Herkunft einer Person und ihren (Werte-)Einstellungen inzwischen gut erforscht. Auch Zusammenhänge zwischen der (auch in der vorliegenden Studie thematisierten) Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (GMF) und der sozialen Herkunft und Lage sind bekannt, z.B. aus den Bielefelder „Mitte-Studien“ von Zick u.a. Daher wäre es sinnvoll und auch im Interesse der Vergleichbarkeit der Ergebnisse der Studie aus Villingen-Schwenningen mit anderen Forschungen notwendig, auch diese Daten zu erheben und auszuwerten. Vielleicht kann dies im weiteren Verlauf noch nachgeholt werden.
- Das Projekt „Werte im BKA“[3]
Ziel und Methode
Um den „anstehenden Generationenwechsel werteorientiert zu begleiten“ (so das BKA), wurde in 2022 eine Studie „Werthaltungen und wertbezogene Erwartungen der Mitarbeiter / -innen des BKA“ durchgeführt. Anhand 60 qualitativer Interviews sowie einer Online-Befragung mit über 1.800 Teilnehmenden beleuchtete sie das „Werteverständnis der BKA-Mitarbeitenden und dessen Umsetzung im Arbeitsalltag“. Zum Forschungsprojekt gehört zudem eine Langzeitstudie über das Werteverständnis bei Berufsanfängern im BKA. Dafür geben 40 angehende Kriminalkommissarinnen und -kommissare in qualitativen Interviews bis 2029 wiederholt Auskunft zu ihren Wertvorstellungen. So soll herausgefunden werden, wie sich die unterschiedlichen Ausbildungsstationen und typischen Erfahrungen im Rahmen der Berufspraxis auf die Werteorientierungen der Anwärterinnen und Anwärter und letztlich auch auf ihre langfristige berufliche Integration auswirken.
Wertehaltungen
Um die „Wertehaltungen“ zu ermitteln, wurde gefragt, wie bedeutend die Beschäftigten eine Reihe von aus dem deutschen Grundgesetz abgeleiteten Werten erachten, und ob es ihnen gelingt, ihre Arbeit im Einklang mit diesen Werten auszuüben. Im Ergebnis wird von den Beschäftigten fast allen Grundwerten eine hohe Bedeutung beigemessen. „Es zeigen sich in den durchschnittlichen Antworten auch keine wesentlichen negativen Diskrepanzen zwischen Soll und Ist. Das bedeutet, die BKA-Beschäftigten stellen im Durchschnitt bei keinem der abgefragten Grundwerte einen Konflikt zwischen Anspruch und Wirklichkeit fest“. (Dieses und die folgenden Zitate stammen aus der Kurzfassung).
Auch sog. „Arbeitswerte“ der BKA-Beschäftigten wurden erhoben. Die wichtigsten Arbeitswerte sind demnach: eine verständnisvolle und gerechte Führungskraft, eine gesicherte berufliche Zukunft und gute „räumlichtechnische“ Arbeitsbedingungen zu haben. Deutliche Lücken zwischen dem, was die Beschäftigten sich wünschen, und den Arbeitsbedingungen, die sie in der Praxis vorfinden, zeigen sich beim Arbeitswert Leistung, worunter das Gefühl verstanden wird, die Ergebnisse der eigenen Anstrengungen sehen zu können und »wirklich etwas geleistet zu haben«, beim Arbeitswert Altruismus, also dem Gefühl, anderen Menschen mit der eigenen Arbeit zu helfen, bei der Bewertung der Führungskraft als verständnisvoll und gerecht, bei der Bewertung der Aufstiegsmöglichkeiten und bei den Möglichkeiten zur kreativen Entfaltung, im Sinne der Beteiligung an der Entwicklung von neuen Ideen und Dingen.
Diskriminierung
Von den Befragten gaben 14 % an, sich als Teil einer in Deutschland diskriminierten Gruppe zu sehen. Die Forschenden schließen daraus, dass - im Vergleich zu einer bundesdeutschen Vergleichsstudie des European Social Survey (ESS, 2018), wo der Wert bei 9 % liege - im BKA überproportional viele Personen arbeiten, die sich als Teil einer in Deutschland diskriminierten Gruppe verstehen. Diese Diskrepanz könnte, so die Forschenden, „Ausdruck einer von der Bevölkerung abweichenden demografischen Zusammensetzung oder einer besonderen Sensibilität für Diskriminierungshandlungen sein“.
Von den Befragten gaben 19 % an, dass sie innerhalb der zwölf Monate vor der Befragung miterlebt haben, wie sich Kollegen gegenüber anderen Kollegen diskriminierend verhalten haben. Dabei wird in 48 % dieser Fälle geschlechtsbasierte Diskriminierung als Grund angegeben. Sexuelle Belästigung gaben lediglich 2 % der Beschäftigten an. Bezogen auf die gesamte Beschäftigungsdauer beim BKA, also über den Zwölf-Monats-Zeitraum hinaus, gaben 21% der befragten Frauen an, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erfahren zu haben.
Rechts-Links-Positionierung, Verbreitung rassistischer und sexistischer Ansichten und Befürwortung von Autorität und Ungleichheit
Auf einer Skala von 0 für sehr links und 10 für sehr rechts positionieren sich die BKA-Beschäftigten im Durchschnitt „mittiglinks“. Den Durchschnitt der Bevölkerung und ihrer Kollegen verorten die Befragten mittig mit sehr leichter Tendenz nach rechts. Dieser Befund ist sei, so die Forschenden, nicht unplausibel, „da das BKA im Vergleich zum Bevölkerungsdurchschnitt eine überproportional junge und gebildete Belegschaft aufweist, mit einem hohen Streben nach den Werten Benevolenz und Universalismus“. Aus Sicht der BKA-Beschäftigten sind rassistische Ansichten im BKA deutlich weniger als in der allgemeinen Bevölkerung verbreitet, werden aber im Durchschnitt dennoch 21 % der Beschäftigten zugeschrieben. Die Verbreitung sexistischer Ansichten im BKA wird mit 23 % ähnlich geschätzt. Gemessen wurde auch die Zustimmung der BKA-Beschäftigten zu autoritären Einstellungen und zu sozialer Dominanzorientierung. Der Vergleich zu Referenzdaten (Beierlein et al. 2014) ergibt, dass autoritäre Einstellungen am BKA durchschnittlich verbreitet sind. Soziale Ungleichheiten und gesellschaftliche Hierarchien werden im BKA im Vergleich zur Bevölkerung in etwas niedrigerem Maß befürwortet.
Fazit der BKA-Studie
Aus Sicht der Forschenden lassen sich im Ergebnis die folgenden zwei als besonders wesentlich erachteten Schlussfolgerungen identifizieren: „Die BKA-Beschäftigten schreiben rund 20 % der Beschäftigten rassistische und/oder sexistische Ansichten zu. Sie haben eine durchschnittlich stark ausgeprägte Tendenz zu autoritären Einstellungen und eine unterdurchschnittliche Tendenz dazu, Ungleichheiten zwischen verschiedenen sozialen Gruppen als gerechtfertigt anzusehen. Dennoch kann der selbst geschätzte Anteil von Beschäftigten mit diskriminierenden Ansichten noch nicht zufriedenstellend für eine Behörde mit den hohen verfahrens- und verfassungsmäßigen Ansprüchen des BKA sein“. Und weiter: „Im Durchschnitt haben die Beschäftigten einen größeren Anspruch an die Wirkung ihrer Arbeit, an ihre persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten und an das Verhältnis zu ihrer Führungskraft, als sie diese beim BKA vorfinden. Qualifikationsunterforderung ist – insbesondere bei jüngeren Beschäftigten – ein weit verbreitetes Gefühl am BKA, das auch wesentlichen negativen Einfluss auf die Arbeitszufriedenheit hat“.
Bewertung der Studie
Die BKA-Studie umfasst im Vergleich zur Studie der Hochschule für Polizei Baden-Württemberg deutlich weniger Aspekte und sie berücksichtigt vor allem keine zeitlichen Dimensionen. Dies ist für Folgestudien vorgesehen. Auch methodisch bleibt sie deutlich hinter der Studie aus Villingen-Schwenningen zurück, die viel differenzierter angelegt ist. Vor allem aber mangelt es in der BKA-Studie an der notwendigen methodischen Selbstkritik – auch hier im Gegensatz zur Studie aus Villingen-Schwenningen. Aus der Beschreibung zur Methodik (Langbericht S. 17) ergibt sich, dass im Erhebungszeitraum 8.121 Personen beim BKA beschäftigt waren. Den Forschenden lagen aber lediglich 1.843 vollständig ausgefüllte Fragebögen vor, womit sich 23 % an der Befragung beteiligt haben.
Eine Auseinandersetzung mit der Frage, wie die für eine behördeninterne Befragung sehr niedrige Rücklaufquote erklärt werden kann, finden sich nicht. Ebenso wird weder hier noch an anderer Stelle die Problematik der sozialen Erwünschtheit von Antworten thematisiert, was gerade bei einer vom Dienstherrn in Auftrag gegebenen Studie unbedingt notwendig gewesen wäre.
Zudem entsprach zwar die Altersverteilung sowie die Verteilung der Beschäftigungsarten (Vollzugsbeamte, andere Beamte und Tarifbeschäftigte) weitgehend sog. „Zielwerten“, die jedoch nicht näher definiert wurden. Frauen waren höher beteiligt als Männer. Ob und wie hier eine entsprechende rechnerische Datenkorrektur bzw. Gewichtung erfolgte, wird nicht mitgeteilt. Zudem unterschied sich die Beteiligung nach Status- und Entgeltgruppen: Beschäftigte des einfachen/mittleren Diensts oder der Entgeltgruppen 1 bis 8 sind unterproportional vertreten, Beschäftigte des höheren Dienstes oder der Entgeltgruppen 13 bis 15 überproportional.
Auch hier gehen die Forschenden nicht darauf ein, ob es zwischen den einzelnen Geschlechter- oder Statusgruppen inhaltliche Unterschiede gegeben hat und wie die ggf. erklärbar sind. Selbst eine Differenzierung nach Lebensalter erfolgt nur ansatz- bzw. gruppenweise, hier dargestellt am Beispiel der sexuellen Diskriminierung: „Unterschieden nach Alter, geben die jüngeren Beschäftigten eine höhere Betroffenheit an: In der Altersgruppe 15 bis 29 Jahren sind es 4 % der Befragten, in der Altersgruppe 30 bis 39 Jahre 3 % und bei Befragten ab 40 Jahren 1 %. Entsprechend wird mit einem Wert von 10 % die höchste Betroffenheit von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz bei Frauen im Alter von 15 bis 29 Jahren ermittelt“. Vertiefende Analysen oder Berechnungen findet man (zumindest im derzeit vorliegenden Abschlussbericht) nicht, ebenso wie eine Differenzierung nach Dienstalter oder auch nach Ausbildungswerdegang (extern oder intern) fehlt.
Insgesamt überwiegt in Bezug auf die BKA-Studie der Eindruck, dass hier eine Chance verschenkt wurde und der Eindruck, dass man mit dieser Studie eher eine lästige Pflicht erfüllen als tatsächlich Ansatzpunkte für behördeninterne Veränderungen finden wollte, überwiegt. Man darf gespannt sein, wie dies bei zukünftigen Studien in diesem Kontext gehandhabt werden wird. Zum Forschungsprojekt gehört nämlich auch eine „Langzeitstudie über das Werteverständnis bei Berufsanfängern“. Dafür werden 40 angehende Kriminalkommissare in qualitativen Interviews bis 2029 wiederholt befragt. So soll herausgefunden werden, „wie sich die unterschiedlichen Ausbildungsstationen und typischen Erfahrungen im Rahmen der Berufspraxis auf die Werteorientierungen der Anwärterinnen und Anwärter und letztlich auch auf ihre langfristige berufliche Integration auswirken“.
Bearbeitungsstand des Manuskripts: 25.02.2025
[1] Hinweis zur „gendergerechten Schreibweise“: Nachdem eine Umfrage unter den Lesern des PNL ergeben hatte, dass man hier (aus verschiedenen Gründen) die männliche Schreibweise bevorzugt, will ich mich auch in diesem Blog daran orientieren. Die gewählte männliche Form bezieht sich immer zugleich auf weibliche, männliche und diverse Personen. Auf eine Mehrfachbezeichnung wird in der Regel zugunsten einer besseren Lesbarkeit verzichtet.
Hinweise zur Zitierweise: In diesem Blog gehe ich – entgegen der sonstigen wissenschaftlichen Gepflogenheiten – relativ großzügig mit Zitierungen um. Plagiatsjäger könnten hier also fündig werden – wobei ich davon ausgehe, dass die Autoren der verwendeten Quellen mit der Art und Weise meiner Quellenverwendung einverstanden sind, weil es letztlich darum geht, ihre Ergebnisse einer (noch) breiteren Öffentlichkeit zur Kenntnis zu bringen. Wichtiger als formal richtige Zitate sind mir wörtliche Zitate aus den Quellen, die ich immer mit „…“ kenntlich mache. Ebenso mache ich immer deutlich, was meine eigene Meinung zu bestimmten Themen oder Ergebnissen ist – in der Regel durch eine entsprechend anders gefärbte Schrift (hier blau).
[2] In der Studie wurden sowohl Auszubildenden, als auch Studierende der „Hochschule für Polizei“ Baden-Württemberg befragt. Wenn im folgenden Text von „Studierenden“ die Rede ist, sind immer auch Auszubildende mitgemeint.
[3] https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/Publikationen/WerteimBKA/werteimbka_node.html
Stress führt zu Fehlern bei Polizeieinsätzen
Ausgangslage
Unter physiologischen Stressbedingungen müssen Polizeibeamte manchmal in Sekundenbruchteilen Entscheidungen über Leben und Tod treffen, wobei Leistungsdefizite tragische Folgen haben können. In einer aktuellen kanadischen Studie wurde die Leistung von 122 Polizeibeamten im aktiven Dienst während eines realistischen Szenarios mit tödlicher Gewalt untersucht, um festzustellen, ob die Leistung durch den Ausbildungsstand der Beamten, ihre Dienstjahre bei der Polizei und ihre Stressreaktivität beeinflusst wurde.
Ergebnisse
Die Ergebnisse zeigten, dass das Szenario zu einer erhöhten Herzfrequenz (d. h. 150 Schläge pro Minute) sowie zu Wahrnehmungs- und kognitiven Verzerrungen, wie z. B. einem Tunnelblick, führte. Die durchschnittliche Leistungsbewertung des Szenarios lag bei 59 %, wobei 27 % der Teilnehmer mindestens einen Fehler bei der Anwendung tödlicher Gewalt machten. Eine erhöhte Stressreaktivität war ein Prädiktor für eine schlechtere Leistung und mehr Fehler bei der Anwendung tödlicher Gewalt. Das Ausbildungsniveau und die Dauer des Polizeidienstes hatten unterschiedliche und komplexe Auswirkungen auf die Leistung und die Fehler bei der Anwendung tödlicher Gewalt. Die Ergebnisse verdeutlichen die Notwendigkeit, die polizeilichen Ausbildungspraktiken kritisch zu reflektieren und weiterhin evidenzbasierte Verbesserungen der Ausbildung vorzunehmen. Sie verdeutlichen auch, dass Schulungen zwar die Ergebnisse deutlich verbessern können, eine fehlerfreie Leistung aber angesichts der Grenzen der menschlichen Leistungsfähigkeit unter Stress wahrscheinlich nicht möglich ist.
Methodik
Eingesetzt wurden Fragebogen, Pulsmessuhren, szenariobasiertes Waffentraining, Stressweste und -gürtel sowie Videoaufzeichnung Mit einem demografischen Fragebogen wurden Alter, Geschlecht, Dienstjahre, Erfahrung in der Strafverfolgung, Ausbildung, selbst angegebene Herz-Kreislauf-Erkrankungen und die Einnahme von Medikamenten, die das Herz-Kreislauf-System beeinträchtigen könnten, erfasst. Die Häufigkeit des Alkohol-, Tabak- und Koffeinkonsums sowie die Häufigkeit der sportlichen Betätigung wurden ebenfalls erfasst. Zusätzlich wurden Geräte zur Überwachung der Stressreaktivität eingesetzt. Und zwar Herzfrequenz-Messuhren. Diese zeichnen kontinuierlich die Herzfrequenz und die R-R-Intervalle (d. h. die Schlag-zu-Schlag-Intervalle) und wurden bereits in früheren Studien verwendet. Sie wurden auch anhand von Elektrokardiogrammen in Krankenhausqualität validiert. Außerem wurden die Teilnehmer mit einer sog. „StressVest“ ausgestattet, einem projektilfreien System, das ein realistisches szenariobasiertes Waffentraining ermöglicht. Die Dienstpistolen sind so umgerüstet, dass sie einen Laserimpuls abfeuern, der die StressVest® aktiviert, wenn er die Körpermitte, die Seite oder den Kopf trifft. Bei einem Treffer gibt der StressX® PRO-Gürtel entweder eine Vibration oder einen Schock an den Unterleib des Teilnehmers ab. Das System löst nachweislich eine Stressreaktivität aus, die anhand der Herzfrequenz gemessen wird und die dem Training mit nicht-tödlicher Trainingsmunition entspricht. Um die Leistung der Teilnehmer zu kodieren, wurde jedes Szenario mit drei GoPro-Kameras aufgezeichnet, die an zentralen Stellen im Untersuchungsgebiet angebracht waren. Alle Teilnehmer trugen außerdem einen Eye-Tracker.
Das Szenario
Wie im Zusatzmaterial (link dazu im Beitrag)) näher beschrieben, wurden die Teilnehmer einem Szenario mit tödlicher Gewalt ausgesetzt. Das Szenario fand in einem Gebäude statt. Alle Teilnehmer wurden zu einer Wohnung gerufen, weil eine weibliche Beschwerdeführerin anzeigte, dass eine männliche Person stark getrunken und gegen seine Bewährungsauflagen verstoßen habe. An diesem Punkt sagte der Moderator: „Szenario läuft“, und die Teilnehmer hatten die Möglichkeit, die Zentrale um zusätzliche Informationen zu bitten, wenn sie dies wünschten.
Der Beitrag enthält umfassende Ausführungen zur verwendeten Methodik und zur Interpretation der Ergebnisse. https://www.polizei-newsletter.de/links.php?L_ID=1188